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Zehnte Woche

Ne, ne, ne, schüttelte Thierry resigniert den Kopf. Jetzt war es also soweit. Plus de 200 ans après, la conscription disparaît du paysage miltaire français à la fin de ce mois de novembre. Beaucoup d'entre nous regretterons le service militaire et l'ouverture sur le monde qu'il constituait. Immer wieder überflog er diese Zeilen, das heisst, er quälte sich über sie hinweg. Seine Augen zollten dem Alter halt doch Tribut. Den Rest vom Artikel konnte er schon gar nicht mehr lesen, weil die Schrift noch kleiner war. Mit der Wehrpflicht verschwand auch das letzte Stück Ehre, das Frankreich noch nicht aufgegeben hatte. Er war, wenn er an den Zustand des Landes dachte, doch manchmal ganz froh darüber, nicht mehr viele Jahre zu haben. Nein, alles verlotterte und verrohte, besonders die Jugend : die telefonierte ja nur noch in der Gegend rum, fuhr Moped, prügelte sich und raubte alte Leute aus. Und jetzt mussten sie nicht mal mehr dienen. Kein Wunder, dass sie keinen Respekt mehr hatten vor den Traditionen und und Gott, dass sie sich nicht zu benehmen wussten.

 

Wenn er zurückdachte, so verband er doch mit seiner Zeit in der Armee die schönsten Erinnerungen. Da gab's noch richtige Kameradschaft. Und das war eine wichtige Schule fürs Leben. Und Krieg hatte ja auch seine guten Seiten. Immerhin hatte er durch den Krieg in Inodchina auch mal die Möglichkeit gehabt, aus dem Béarn, der Region, in der er seit seiner Geburt lebte, rauszukommen. Dort hatte er dann aber doch gemerkt, dass es zu Hause schöner war. Ja die Jugend, die wusste die Schönheit der Heimat gar nicht mehr zu schätzen, für die war doch alles gleich. Die konnte ja nicht mal mehr die Marseillaise, dabei war das so ein schönes Lied : Allons enfants de la Patrie/ Le jour de gloire est arrivée !/ Contre nous de la tyrannie/ L'étendard sanglant est levé/ L'étendard sanglant est levé,/Entendez-vous dans les campagnes/ Mugir ces féroces soldats ?/Ils viennent jusque dans nos bras/ Egorger vos fils et vos compagnes!

 

Er sang das immer wieder gerne, einfach so für sich. Heutzutage sangen ja die Jugendlichen nur noch solche neumodischen technischen Lieder aus Amerika, die gar keinen Text hatten. Und dann hüpften dazu im Fernsehen irgendwelche jungen fast nackten Kücken rum. Obwohl, manchmal sahen die natürlich schon ganz niedlich aus. Aber die könnten ja dazu auch die Marseillaise singen. Aber die hatten ja nur noch Sex im Kopf heute die Jugendlichen. Zu seinem Enkel Yann hatte er am 11.November gesagt : Yann ! Aujourd'hui c'est le 83. Anniversaire de l'Armistice de la Grande Guerre. Il y a des cérémonies au monuments aux morts. Yann war wieder nicht mitgekommen : Je m'en fous, hatte er nur bemerkt und darauf verwiesen, dass er mit seiner Freundin verabredet war. Dabei hätte er seine Freundin ja ruhig mitnehmen können. Aber die jungen Leute interessierte es nicht, was ihre Vorfahren geleistet hatten. Dabei hätte es ihn wirklich gefreut, wäre Yann mitgekommen. Seit dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren ging er ja jedes Mal alleine dorthin. Ganz früh stand er am 11. November immer auf, zog sich an und steckte seine Orden an den Mantel. Vor allen anderen war er immer da und setzte sich auf die Bank vor das Monument. Dieses Jahr fröstelte ihn ein eisiger Wind. Dafür schien die Sonne und man hatte einen wunderschönen Blick auf die Pyrenäen.

 

Er kannte die meisten Gesichter schon, auch wenn er nicht mit ihnen gekämpft hatte. Es kamen ja doch so jedes Jahr dieselben, nur dass es immer weniger wurden. Aus dem ersten Weltkrieg sah man schon seit längerem keinen mehr. Wenn das Orchester der städtischen Musikschule La Sonnérie des morts und danach die Marseillaise spielte, wurde ihm immer ganz wehmütig ums Herz. Da waren auch welche dabei, die im Alter von Yann waren. Aber seine Enkel konnte man sich ja leider nicht aussuchen und auch nicht austauschen. Bewegend fand er auch den Moment, wenn einigen der anciens combattants Orden verliehen wurden. Diesmal bekam unter anderem Kapitän Jambart vom 5.Régiment d'Hélicoptères de Combat einen ab. Wurde auch langsam Zeit. Das 5.RHC war nämlich in den letzten Jahren übergangen worden, weshalb sich schon einige seiner Mitglieder beschwert hatten. Bei der Rede vom Vertreter des Staatssekretärs für die anciens combattants hörte Thierry allerdings nicht so genau hin. Das war ihm in seinem Alter doch zu anstrengend, sich so lange zu konzentrieren. Ausserdem wurde da eh im ganzen Land das gleiche erzählt. Aber irgendwie war das ja auch gut so, das förderte das Gemeinschaftsgefühl.

 

Nach der Zeremonie hat er sich dann kurz bei Gérard erkundigt, wie die Messe zum 31.Todestag von General Charles de Gaulle war: Ben!, hatte der nur gegrummelt. Gérard war schon immer sehr maulfaul gewesen. Leider hatte er ja an der Messe nicht teilnehmen können, obwohl er es vorgehabt hatte. Aber als er am Freitag Morgen vor die Tür getreten war, da hatte es so eisig geregnet, das konnte man sich gar nicht vorstellen, wenn man das nicht miterlebt hatte. Minus zehn Grad war der bestimmt kalt. Das hatte er noch nie erlebt. Das hatte es früher auch nicht gegeben, da war der Regen bei unter null Grad gefroren. Aber das lag wohl auch am Treibhauseffekt, vermutete er. Wahrlich keine schöne Welt, wo nicht mal Regen mehr gefror. Nach einer Minute war er trotz Schirrm total nass gewesen, richtig gebrannt hatte das auf der Haut. Darum war er wieder umgekehrt. Warum hatte der General nicht im Sommer sterben können ? Er, hatte sich Thierry vorgenommen, wollte im Mai sterben. Da waren noch keine Ferien, das Wetter aber meistens gut. Nächstes Jahr würde er einfach Gérard drum bitten, bei ihm übernachten zu können. Der wohnte ja gleich am Place de la Libération. Von dort war es nur ein Katzensprung bis zur Eglise St. Jacques.

 

Er hatte sich die Messe stattdessen mit seinem Feldstecher, den er zum Abschied aus der Armee geschenkt bekommen hatte, angesehen. Auch wenn er natürlich nicht so viel erkennen konnte. Viele warens aber, so hatte er ausgemacht, nicht. Dabei war der General so ein toller Mann gewesen, nicht so wie die Politiker heute, wie Chirac dieser Kasper oder Jospin, dieser blasse Vogel. Der General hatte noch Ausstrahlung, Integrität und Führungsstärke. Es war ein trauriger Tag gewesen, damals, dieser 9.11.1971 (ausser in der DDR). Die Leute, die später geboren wurde, versuchten doch nicht mal mehr, die Zeit davor  zu verstehen. Vielleicht konnten sie es auch gar nicht. Thierry nahm noch mal die Ausgaben von Le République des Pyrénées, in denen was über die Gedenkveranstaltungen zum 11.November stand. Er archivierte die immer. Alle Orte in der Region wurden da aufgefûhrt mit Bild. Dann suchte er immer nach alten Kameraden von damals. Vielleicht war der General ja auch absichtlich gestorben, weil er wusste, dass er die Zeit nicht mehr verstehen würde, die nun kam. Er wollte sie bestimmt auch gar nicht mehr verstehen. Warum auch ?, dachte sich Thierry. Wenn man merkte, dass man selbst und die Welt, in der man lebte, sich nicht mehr einigen konnten, dann konnte man auch gehen. Man hätte eh keine Freude mehr, da war das Sterben gar nicht keine so schlimme Aussicht.