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Elfte Woche

Dem Überleben im Wohnheim stellten sich so einige Hindernisse entgegen. Da war die dicke schwarze Nachbarin aus Zimmer 4, die Stephan den ganzen Tag nicht in die Küche liess, weil sie ununterbrochen die beiden Herdplatten für sich beanspruchte, um darauf ihren stinkenden Fisch zu kochen. Stephan hatte sich schon mehrmals fest vorgenommen, mal was zu sagen. Schliesslich bezahlte er auch die gleiche Miete. Aber sie war leider nicht nur dicker als er, sondern auch fast doppelt zu gross, was ihm für den Fall einer körperlichen Auseinandersetzung die Aussenseiterrolle eintrug. Und selbst wenn es in Filmen immer wieder so aussieht, letztlich gewinnt doch meistens der Stärkere und nicht der Schwächere. Darum entschied sich Stephan dann am Ende jedes Mal wieder dafür, in die zweite Etage hochzulatschen, um dort das Wasser für seine 5-Minuten-Terrine aufzukochen. Aber davon soll ja eigentlich nicht die Rede sein.

 

Viel schlimmer als die gastronomische Infrastruktur, wirkte sich ja in der kalten Jahreszeit die fehlende Heizung aus. Das hiess, offiziell gab es in allen Zimmern des Wohnheims eine Heizung, nur wurde die in Stephans Zimmer nur in der Zeit von 10-14 Uhr angestellt. Diese Logik konnte er nicht nachvollziehen. Wer ausser den Spinnen und Kakerlaken, brauchte tagsüber ein geheiztes Zimmer. Er war in der Uni und wenn er wiederkam, war schon wieder alles gefroren. Selbst wenn die Heizung lief, merkte man davon nicht viel. Man musste schon unter den Tisch kriechen, unter dem die Rohre langliefen und sich ganz fest ranschmiegen, dann hatte man, wenn Luftdruck, Luftfeuchtigkeit und Windverhältnisse stimmten, zumindest eine Ahnung davon, dass das eine Heizung sein sollte. Er ass darum auch immer unterm Tisch, machte dort seine Hausarbeiten und wenn ihn jemand besuchte, was nie vorkam, so krochen sie dorthin, weil die restlichen Regionen des Zimmers kein Leben zuliessen.

 

Zweimal war Stephan auch schon bei der Rezeption des Wohnheims vorstellig geworden und hatte sich freundlich beschwert. Das erste Mal hatte nichts gebracht und beim zweiten Mal hatten zwei Männer vorbeigeschaut. «Ca fait froid?», hatte der vermeintliche Anführer des Wohnheimshausmeisterduos Stephan vorwurfsvoll gefragt. «Oui.» Er hatte dann kurz an die Heizung gefasst und darauf gemeint : «Non, ça ne fait pas froid.» «Mais oui!», hatte Stephan gesagt und ihn freundlich drum gebeten, doch wenigstens vorher seine Handschuhe auszuziehen, sonst könne er das gar nicht beurteilen. Überdies solle er mal nach 18 Uhr vorbeikommen, dann aber nicht vergessen seine Polarforscherkleidung überzuziehen. Der Mann lehnte das ab, versprach Stephan aber immerhin, ihm ein Thermometer vorbeizubringen, mit dem festgestellt werden konnte, wessen Windchillbarometer trog. Er hat es dann aber nicht getan, wohl weil er wusste, dass er gegen Stephan den Kürzeren ziehen würde.

 

Eine weitere Beschwerde an der Rezeption wurde mit dem Hinweis abgeschmettert, es gäbe genug Studenten, die liebend gerne sein Zimmer haben wollen würden. Das konnte sogar sein, aber nur weil sie nicht wussten, was sie erwartete. Stephan sah ein, dass keine Verbesserung der Situation zu erreichen war. Aber er fuehlte sich zumindest als der moralische Sieger. Wenn er schon sterben müsste, dann wenigstens mit der Gewissheit, Recht gehabt zu haben. Ja, er hatte sogar schon ein Motto : Erfrieren für Deutschland ! So richtig toll fand er dieses Motto zwar nicht, aber ihm war auch kein besseres eingefallen. Und so weit daneben lag er ja auch gar nicht. Die Franzosen waren nämlich auch total rassistisch, was daran deutlich wurde, dass er als Deutscher zusammen mit den Arabern und den Schwarzafrikanern Paterre wohnte und die Franzosen weiter oben. Schon in der ersten Klasse hatte er aber im Physikunterricht gelernt, dass die kalte Luft nach unten sinkt und warme nach oben steigt. Die Franzosen in der dritten Etage lagen wahrscheinlich noch um Mitternacht mit geöffnetem Fenster und offener Tür nur mit Badehose bekleidet unter ihrem Bett im Schatten, um keinen Hitzeschlag zu erleiden, während er sich nicht traute, sich zum Schlafen hinzulegen, da er sonst bestimmt am Morgen festgefroren wäre.

 

Gar nicht zu schlafen, liess sich natürlich nicht ewig durchhalten. Drohte ihn die Müdigkeit zu übermannen, zog er sich alle Klamotten an, die er besass - auch die dreckigen - dann wickelte er sich zunächst in sein Laken. Für die sechs Decken, in die er sich wickeln wollte, musste er Florian, den anderen deutschen Studenten, der auch auf derselben Etage eingepferchte war,  bitten, das zu übernehmen. Dieser spannte dazu die Decken zwischen Bett und Leiste, so dass sie eine schiefe Ebene bildeten. Florian legte den ins Laken eingewickelten Stephan dann an die obere Kante der Rampe, also der Decken, deren Ende er mit Sicherheitsnadeln an Stephan befestigte. Dann schubste Florian Stephan an, der darauf die Rampe runter- und sich damit gleichzeitig in die Decken einrollte. Das ganze Bündel wurde dann noch mit Draht verschnürt. Natürlich konnte Florian sich anschliessend nicht selber auch noch so verpacken. Aber dieses Problem lösten sie, indem immer abwechselnd einer der beiden die Nacht aufblieb und Nachtwache hielt.

 

Zusätzlich war Stephan aber noch auf einen Trick gekommen, wie sich die Körper-Wärme noch besser konservieren liesse. Er rollte sich selbst so zusammen, dass er seinen Mund an den Bauchnabel presste. So atmete er in den Bauchnabel aus, was diesen, als kälteempfindlichste Körperstelle, warm hielt. Ausserdem konnte Stephan dadurch gleich noch die schon vorgewärmte Luft wieder zum Einatmen verwenden. Zwar erhöhte sich so im Laufe der Nacht der Kohlenstoffdioxidanteil, aber immerhin holte er sich keine Gefrierungen der Luftröhre und der Lunge. Nicht immer reichte das aus, um die Nacht einigermassen zu überstehen. Wurde es im Zimmer gar zu kalt, rollte Florian Stephan raus, durch den Flur, vor das Wohnheim, auf den Mittelstreifen der Avenue de Saragosse. Da fuhren ja auch nachts noch gelegentlich Autos vorbei. Die Abgase wärmten Stephan dann wieder ein bisschen auf. Natürlich hätte sich Stephan auch lieber eine andere Lösung gewünscht, aber was blieb ihm anderes übrig. Bis auf seine riesige fette schwarze Nachbarin kannte er ja im Wohnheim niemanden, bei dem er sich hätte reinschleichen können.

 

Sie hatte ihm zwar auch noch nicht gerade angeboten, mal vorbeizuschauen, hatte aber in ihrem Zimmer eh permanent 4 bis 5 Leute ihrer Verwandtschaft, da wäre einer mehr ihr gewiss auch nicht aufgefallen, zumal Stephan auch schon einen sehr dunklen Hautton hatte, weil er sich, seitdem das Leitungswasser unter 0 Grad lag, nicht mehr wusch. Da könnte er sich eine Weile bestimmt als Afrikaner verkaufen. Er hätte sich dann einfach an sie gekuschelt. Aber am Ende hatten dann doch die Bedenken überwogen. Was, wenn sie den Schwindel bemerkte ? Was, wenn sie wegen dem stinkenden Fisch, den sie immer ass, Mundgeruch hatte? Er konnte ja wohl kaum sagen : «Pardon. Tu pues de la bouche. Je m'en vais.»  Das würde sie bestimmt kränken. Gut, es war natürlich nicht bewiesen, dass stinkender Fisch zu Mundfaeule führte, aber er wollte auch kein Risiko eingehen.

 

So zog er dann doch den Mittelstreifen vor. Und während an ihm die Renaults und Peugots vorbeibrummten, dachte er sehnsuchtsvoll daran, wie gut es doch die Amerikaner aus dem Wohnheim hatten, die im Turm untergebracht waren. Im Turm, welche Symbolik, dass die sich nicht dagegen gewehrt hatten. Im Turm wäre er jetzt auch gerne. Da war es bullig warm. Bush hatte nämlich Chirac gedroht, Frankreich zu bombardieren, sollten die amerikanischen Austauschstudenten nicht besser geheizte Wohnheimsplätze erhalten als die arabischen Studenten. Frankreich sollte die arabischen Studenten, alles potentielle Terroristen, gefälligst auskühlen, sonst beweise es, dass es nicht auf Seiten der Antiterrorkoaltion stehe und somit den Bösen zuzurechnen sei. Durch einen Code am Eingang hielten sich die Amerikaner die arabischen Studenten und die übrigen Bewohner aus den anderen Gebäuden vom Leib. Zwar spielt Frankreich ja seit mehreren Jahrhunderten die grosse Unabhängige, aber wie immer, wenn es drauf ankam, knickte es auch diesmal ein und gab den Forderungen nach. Und Stephan und Florian, eigentlich als Deutsche mit zu den Guten zählend, aber bedauerlicherweise im falschen Gebäude und auch noch der ungünstigsten Etage, waren halt die Kollateralschäden, die man leider in Kauf nehmen musste.