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Achtzehnte Woche
Vielleicht nicht
unbedingt ein Highlight, so aber doch ein integraler Bestandteil der Paloiser
Subkultur dauert – zumindest schon seit dem 24. September – am Boulevard
Tourasse, Ecke Avenue du Loup: eine Lidl-Filiale. Neben Rammstein
und Derrick zählt Lidl zu den einzigen deutschen Produkten,
die nach dem Abzug der deutschen Wehrmacht im Land bleiben durften. Nicht ohne
Grund, munkeln kritische Zeitgenossen, helfen sie doch, ein Bild aufrecht zu
erhalten, welches hier schon seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher
Nation vom rheinischen Nachbarn existiert und jeden Franzosen abschreckt,
seinen Fuss auf dieses fremde Territorium zu setzen: der Germane ist
aggressiv, macht schlechte Filme mit spiessigen Langweilern und von Essen hat
er schon gar keine Ahnung, was auch stimmt, weshalb Frankreich in der Qualität
seines Fernsehprogrammes lieber mit Italien wetteifert, dessen Niveau ja
weltweit gerühmt wird.
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Nichtsdestotrotz
gibt es auch in Pau Menschen, die auf Lidl nicht verzichten können.
Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Renter, Araber und Erasmusstudenten.
Diesen Gruppen ist der schlechte Ruf von Lidl in Deutschland
schnurzpiepe, wohl auch weil sie noch keiner davon in Kenntnis gesetzt hat.
Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger können hier endlich erhobenen Hauptes
durch die Regale promenieren, ohne wie bei E.Leclerc scheel angeschaut
zu werden, weil ihr Geld nur für die eine 10 Euro kostende Tomate reicht und
sie sich die Butter deshalb nicht mehr leisten können. Bei Lidl fühlen
sie sich hingegen nicht so gedemütigt, erstens weil die Tomaten weitaus günstiger
zu haben sind und zweitens weil es Butter meistens gar nicht gibt. Lidls Geschäftspolitik
sieht nämlich vor, von jeder denkbaren Mahlzeit immer nur höchstens eine
Zutat parat zu haben. Will jemand sich eine Stulle mit Butter und Nutella
schmieren, so muss er dazu mindestens dreimal vorbeischauen. Im Normalfall
sogar unzählig viele Male, da die Lidlbelegschaft immer genau mitkritzelt,
wer schon fast alle Zutaten zusammenhat. Fehlen einem für die
Spaghetti–Bolognese nur noch die Spaghetti, dann verstaut Lidl die einfach für
mehrere Monate in dem Spülbeuler der hauseigenen Toiletten. Lidl hat somit
zwar nicht viele Kunden, dafür aber sehr treue, die mit grosser Häufigkeit
vorbeischauen und weil sie das, was sie wollen, nicht finden, dafür andere
Sachen mitnehmen.
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Die Rentner kommen
beispielsweise in erster Linie wegen der günstigen Öffnungszeiten: Montag
Ruhetag, Dienstag bis Donnerstag 9–11Uhr, Dienstag und Donnerstag 16–18
Uhr, Mittwoch nachmittag frei und Freitag Wochenendvorbereitung. Dieser zerklüftete
Stundenplan ist ja für jeden Rentner weltweit eine willkommene
Herausforderung. Man stellt sich schon mal um sechs Uhr morgens hin, schiebt
ein bisschen die Einkaufswagen über den vorgelagerten Parkplatz, wirft mal
einen Blick ins Innere, ob’s noch deutsche Dominosteine gibt. Nein, gibt’s
nicht mehr, schade, satt dessen die aktuelle Lidl-Monatsbroschüre, aber die
hat man eh abonniert. Reicht also auch, sich erst um halb acht anzustellen und
so lange mit den anderen Rentnern quatschen. Das ist das gute bei Lidl, man
kennt sich und fühlt sich nicht ganz so allein, nicht so wie das unpersönliche
riesige E.Leclerc, in dem man sich so verloren vorkommt. Da bleibt man
auch gerne noch während der vierstündigen
Mittagspause in Reichweite. Man kann ja seinen Hund mitnehmen und ihn
in dieser Zeit in den Blumenbeeten [beten] des angrenzenden Pizzarestaurants
mit den überteuerten Preisen Gassi führen.
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Nicht nur unter den
Kunden herrscht Vertrauen. Auch mit den Verkäuferinnen ist man quasi auf Du.
Und in ihrer Zusammensetzung wird auf soziale Ausgewogenheit grossen Wert
gelegt, ob jung und hübsch oder alt und hässlich, alle tragen den gleichen
blauen Kittel mit dem gelben Revers und alle bekommen gleich wenig Geld. In
der Verteilung der Artikel über die Fläche mag zwar bei vielen Betrachtern
der Eindruck von Liederlichkeit aufkommen, aber bei der Gleichberechtigung der
Kassiererinnen werden keine Abstriche gemacht. So ist immer nur eine Kasse in
Betrieb. Früher hatte man es mal mit zweien versucht. Aber da haben sich die
männlichen Kunden dann immer bei der jungen Aushilfskraft Mme Leblanc
angestellt, wegen ihrem knackigen mit viele Rundungen versehenen Körper und
dem Lolitablick [Lilota], während die 50jährige Aushilfskraft Mme Hervé,
weil sie fettige Haare und einen Damenbart hatte, nur Zulauf von einigen
Feministen erhielt und wenigen Männern, die generös meinten, sie würden
sich trotz ihres Aussehens von ihr abfertigen lassen. Heute sind alle
Aushilfskräfte nacheinander dran, während den anderen die Aufgabe zukommt,
die Salami, die von den Kunden aus Versehen zu den anderen Wurstsorten gepackt
wurde, wieder zwischen die Äpfel zu legen, da sich die späteren Kunden sonst
zu leicht zurecht finden und so weniger kaufen würden. Umdisponiert wird in
der Kassenbelegung nur, wenn gerade Araber einkaufen. Damit diese sich nicht
zumindest in ihrer Vorstellung versündigen, wechselt die Lidl–Leitung
vorsorglich Mme Hervé gegen Mme Leblanc ein, was dann doch dazu führt, dass
erstere weitaus mehr Kassenschichten hat.
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Viele der Araber,
die bei Lidl kaufen, tun dies hauptsächlich aus einem Grund: weil es deutsch
ist. Deutschland stösst bei nicht wenigen Arabern wegen seiner historischen
Leistungen im ersten Teil des 20. Jahrhunderts auf tiefste Dankbarkeit und
Loyalität. Zu Lidl zu gehen bedeutet den ersten Schritt hin zu einem
Deutschlandaufenthalt. Deutsche trifft man natürlich auch, insbesondere
deutsche Erasmusstudenten aus dem Wohnheim Corisande, denen der Weg zu
E.Leclerc zu weit ist, obwohl diese aus Überzeugung eigentlich solche
Billiganbieter boykottieren, zumindest der eine. Gegenüber anderen redet er
sich damit raus, er sei in einer finanziellen Notsituation – als Ausländer
in Frankreich– und könne sich Einkäufe bei E.Leclerc nicht leisten.
Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass er mit den gesparten Euros teure
Radsportmagazine und Skitouren in Touretappenorte bezahlt. Er hofft natürlich,
dass das keiner nach Deutschland weiterpetzt und vor allem nicht die Wahrheit
rausposaunt, dass das Lidl-Angebot nämlich einfach seine Kochkünsten nicht
vor unlösbare Aufgaben stellt. Was soll man mit Waffeln und Chips schon
falsch machen, wo doch sogar der deutsche Name drauf steht? Und mit Wörterbuch
hat er auch rausgekriegt, was das auf dem Schild über der Kasse heisst: Pas
satisfait? Lidl rembourse sans discussion! So ungefähr, dass man das Geld
zurückerhält, wenn einem was nicht schmeckt. Wollte er auch einmal
ausprobieren, nachdem er drei Viertel seiner Kekse [Keckse] aufgegessen hat.
Hat er aber nicht den Mut für aufgebracht, weil seit einer Weile nicht mehr
der sympathische Security-Typ da ist, der immer mit den nicht an der Kasse
befindlichen Kassiererinnen flirtet, sondern Alarme
Europe Security jetzt den Boxer schickt oder den Praktikanten, der ihn übereifrig
die ganze Zeit mustert. Sogar seinen Rucksack muss er jetzt am Eingang zurücklassen.
Ob das wegen Klauen oder wegen einem vermuteten Selbstmordattentat ist, hat er
noch nicht in Erfahrung bringen können. Die Schlaghosen scheinen ihn
jedenfalls verdächtig zu machen. Trägt ja sonst in Pau niemand.
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