Zurück zu Stephan
Einundzwanzigste Woche
Gesteigerter
Patriotismus lässt sich bei einem längeren Frankreichaufenthalt nur mit Mühe
unterdrücken. Aber wer macht sich die schon? Ich habe jedenfalls aufgehört,
mich gegen meine Bedürfnisse zu stemmen, rauszufinden, wo Deutschland überall
besser ist. Obgleich es sicherlich weitaus weniger Aufwand bedeuten würde, zu
recherchieren, in welchen Domänen Frankreich die Nase vorn hat. Meine innere
Selbstaufgabe geht soweit, dass ich mich mittlerweile sogar wieder für die
Fussballbundesliga interessiere. Dabei glaubte ich, diese Krankheit längst überwunden
zu haben. Schon in der neunten Klasse machte ich nämlich die lehrreiche
Erfahrung, dass es mir bei der Türkin Cenet keine Pluspunkte brachte, wenn
ich in ihrer Gegenwart anfing, den HSV zu loben. Sie wollte sich danach
trotzdem nicht von mir ins Kino entführen lassen. Ich bin felsenfest davon überzeugt,
Galatasaray und Fernabaçe hätten mir auch nicht geholfen. Ich
zog die richtige Schlussfolgerungen daraus: Cenet sah zwar gut aus, hatte aber
einen doofen Charakter. Fussball brachte einen im Leben nicht weiter. Ich hörte
auf, meine Zeit damit zu verschwenden. Wie man sieht, mit Erfolg. Seit der
neunten Klasse hatte ich statistisch betrachtet weitaus häufiger Sex, als
davor.
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In
Frankreich ist das aber wieder umgekehrt. Ich habe hier statistisch betrachtet
wieder genauso viel Sex, wie vor der neunten Klasse, mit dem feinen
Unterschied, dass ich mich jetzt nicht mehr damit rausreden kann, noch warten
zu wollen, bis ich 18 bin. 18 war ich nämlich auch schon mal vor einigen
Jahren. Was bleibt mir und Florian, dem es, wie mir scheint, ähnlich geht, da
anderes übrig, als uns von deutschem Ligafussball trösten zu lassen. Die
Logistik haben wir jetzt immerhin im Wohnheim, seitdem die Araber eine
Petition einreichten mit der Bitte um einen Satellitenanschluss, damit sie
sich auf Al Jazera immer das wöchentliche Starinterview mit Osama bin
Laden anschauen können. Deutsches Fernsehen war im Paket mit inbegriffen. Das
einzige Hindernis bestand noch darin, den Arabern die Fernbedienung zu
entlocken, die nach britischem Gewohnheitsrecht längst ihr Eigentum geworden
ist, was sicherstellt, dass andere nicht auch mal gucken. Aber Florians
Strategie, mit allen Arabern auf Du zu sein und nicht zu widersprechen, wenn
sie ihn davon zu überzeugen versuchen, Adolf Hitler sei eine der grossen
Lichtgestalten der Menschheitsgeschichte, wurde doch belohnt. Die
Deutsch-Arabische Solidarität wurde auch in der Cité Corisande
d’Andoins nicht infrage gestellt. Florian brauchte einfach nur den
Araber neben ihn zu fragen: «Tu veux regarder du football allemand.»
Der traute sich dann nicht nein zu sagen. Und im Grunde hatte er auch nichts
zu verlieren. Besser als die französische Première Division ist die
Bundesliga allemal. Ausserdem spielt man in Frankreich immer erst nach zwanzig
Uhr, damit die Franzosen noch in Ruhe die Tagesschau zu Ende schauen können.
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Wichtig
war es nun, zu verhindern, dass der Araber (die anderen beiden hatten nicht
nein gesagt, waren aber dafür gegangen) sich nicht langweiligte und auf dumme
Gedanken kam, wie zum Beispiel umzuschalten. Das war unumstritten Florians
Aufgabe, hatte er sich doch schon viel besser mit der arabischen Mentalität
vertraut gemacht. Er versuchte, den deutschen Kommentar - so gut es ging - ins
Französische zu übersetzen. So hatte der Araber auch was davon. Natürlich
musste er dabei auch ein bisschen flunkern. Werner Hansch kann es sich
leisten, ein Spiel als «beschissen» zu bezeichnen. Florian hingegen hatte
sich so zu verhalten, als sei das 2:1 von Wolfsburg gegen Cottbus ein echter
Knaller, was eigentlich unmöglich war und von dem Araber auch sofort
angezweifelt wurde, indem er sich als nur löchriger Deutschlandexperte zu
erkennen gab. «Tu connais ces deux clubs? Cottbus et Wolfsburg?» «Non,
mois je connais seulement Munich.» «Ah bon. Munich. Ils jouent contre
Dortmund. Mais ça c’est plus tard. C’est le match le plus important.»
Kein Wunder, dass ihm Cottbus und Wolfsburg nichts sagten. Da gibt’s keine
Unis, zumindest keine, die von Arabern ernsthaft fürs Studium in Erwägung
gezogen wird. Er sollte aber nun nicht denken, deshalb sei das Match nicht
sehenswert. Als Geographiestudent wusste sich Florian zu helfen und er
erteilte ein bisschen Nachhilfeunterricht: «Tu sais? Wolfsburg ce sont des
Wessis. Wessi ça veut dire, des Allemands de l’Ouest. Ils font des
voitures, des VWs. Cottbus c’est à l’Est. Là bas, ils ne font rien. Ce
sont des chômeurs. Moi je suis pour Cottbus, parce que je suis aussi de
l’Est comme Stephan. Lui il est aussi pour Cottbus.» Es war nicht
eindeutig auszumachen, ob ihn diese Erklärung zufrieden stellte, denn er
antwortete lediglich: «Oui!»
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Bei
dem Match Hertha gegen Stuttgart kam Florian entgegen, dass gerade Jürgen Röber
gegen Falko Götz als Trainer ausgetauscht wurde. «Tu connais Berlin et
Stuttgart?» «Non! Je connais seulement Munich.» «Ah oui.
Munich, c’est plus tard. Contre Dortmund. C’est le meilleur match. Mais
Berlin c’est la capitale d’Allemagne. Et Stuttgart, c’est la capitale de
Baden Würtemberg. Mes les supporteurs de Berlin sont très fachés parce
qu’on a viré Jürgen Röber. C’était un entraineur très populaire.
Maintenant on a Falko Götz. Il y a des banderoles avec lesquelles les
supporteurs expriment leur mécontentement.» «Oui!» Die übrigen
Spiele waren wegen der hohen Siege weitaus einfacher zu kommentieren,
abgesehen von Bremen gegen Kaiserslautern. Aber in dem Spiel war dem Araber
wenigstens Bremen ein Begriff. Ansonsten klatschte Florian bei jedem Tor genüsslich
mit seinen Händen auf die Schenkel und tat zum Beispiel so, als könne er das
5:0 von Leverkusen gegen Gladbach nicht fassen, obwohl er sich kurz vorher im
Internet über das Reslutat informiert hatte. Ich fand ja nicht, dass er das
dem Araber auch noch hätte mitteilen müssen. Aber bisher hatte ich mich
nicht eingemischt. So verbesserte ich Florian auch diesmal nicht. Es ging auf.
Florian meisterte sogar die 10 Werbepausen vor dem Bayern-Dortmund-Spiel,
indem er bei jedem zweiten Spot bemerkte: «Regarde! C’est de la pub
allemande.» Bei der anderen Hälfte erinnerte er daran, dass bald Bayern
gegen Dortmund komme.
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Bayern
gegen Dortmund wurde seinem Ruf als Top-Spiel jedoch nicht gerecht. Aber die
Vorfreude hatte ich schon mit meinem Internetbesuch abgelegt. Nur Florian
hatte das 1:1 Endergebnis absichtlich vergessen, um die Überraschung gegenüber
dem Araber auch überzeugend zu spielen. Sat 1 hatte Vorkehrungen getroffen
und den Werbeblock vorsorglich fünfmal durch das Spiel unterbrochen, damit
niemand merkte, wie schlecht beide Teams eigentlich auf dem Rasen aussahen und
dass Tomas Rosicky wieder kein Tor erziehlt hatte, obwohl das doch mein
Lieblingsspieler war. Man schmeckt in solchen Momenten bitter, was man sich
von Ran eigentlich alles nicht gefallen lassen müsste. Aber dazu ist
das Leben ja da, dass man nichts dagegen unternimmt. Ganz schlimm schien es
aber für den Araber offensichtlich nicht gewesen zu sein, denn am nächsten
Tag waren er und seine Freunde beim Finale des Afrika Cups doch wieder für
Kamerun, weil die nicht wie Senegal von einem Franzosen trainiert werden,
sondern von Winnie Schäfer, was dann auch zum Sieg gereicht hat.
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