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Zweiundzwanzigste Woche
 

Gourette dürfte nördlich der Mainlinie nur wenigen normalgebildeten Menschen ein Begriff sein, was auch nicht weiter schlimm ist. Ich habe trotzdem eine Woche wegen Skifahren dort verbracht, obgleich ich mir das in Potsdam nicht als Schein fürs Hauptstudium anerkennen lassen kann, ich studiere nämlich Französisch und politische Bildung. Ich wurde jedoch nicht alleine in den Pyrenäen-Ort gelassen, hatte stattdessen Florian und vier Französinnen als Aufpasser dabei. Sie sind jedoch ihrer Aufpasserrolle nur unzureichend nachgekommen und es gelang mir immer wieder, ihnen zu entwischen und im örtlichen Zeitungsladen heimlich in den französischen Sexmagazinen, andere gibt’s in Frankreich leider nicht, zu schmökern.

 

Zu sechst zu sein, erhöht aber auf jeden Fall auf der Piste den Konkurrenzdruck, will doch jeder die beste Figur abgeben. Was die Girls (englischer Argotbegriff aus der Region von Manchester, der nicht ins Deutsche übersetzt werden kann) betraf, so machte ich mir ihretwegen recht wenig Sorgen. Schliesslich ist es für Mädchen verboten, besser Skizufahren als ihre männlichen Begleiter, jedenfalls in Deutschland. Meine Mutter und meine Schwester müssen deshalb auch immer in der Spur hinter meinem Vater und mir bleiben und dürfen uns nur dann überholen, wenns darum geht, schon mal Plätze in der Bergbaude zu sichern, wo wir unsere Mittagspause abhalten. Mein Vater und ich üben in der Zeit noch in Ruhe den Schneeflug zu Ende. Aber das ist Musik von Gestern. Ein bisschen unsicher war ich wegen den Französinnen allenfalls, weil sich in Frankreich grundsätzlich niemand an Gesetze hält. So ignoriert in der Uni auch jeder Student die Rauchverbots-Schilder, welche ich im Zweimeterabstand aufgehängt habe. Ich musste also schon ein wenig wachsam sein.

 

Um Florian sorgte ich mich allerdings mehr. Hatte er wirklich noch nie auf Skiern gestanden? Oder spielte er nur den Dilettanten und hatte seit unserer Ankunft in Pau Ende September heimlich die ganze Zeit geübt, um mir dann auf der schwarzen  Strecke davonzuwedeln. Sein Verhalten machte ihn jedenfalls verdächtig, nicht so sehr, dass er die Skier nicht zu tragen wusste, das ging auch anderen Einsteigern so. Aber sein Vorhaben mit seinen Abfahrtsskiern Langlauf zu machen, aktivierte in mir eine gesunde Portion Misstrauen. Konnte einer auf die Gedanken kommen, mit alpiner Skiausrüstung Langlauf zu probieren, erst recht, wo doch seit dem Bekanntwerden von Johann Mühleggs Dopingvergehen deutsche Langläufer verboten sind? Bluffte er nur? Hatte er nicht gegenüber den Mädchen mal geäussert, er sei in der Lage, neue Dinge schnell zu lernen?

 

Dass er nicht bluffte und ein angenehmer Gegner war, bewies Florian schnell. Nach fünf Metern auf der Babypiste schnallte er plötzlich die Skier ab, mit der Begründung, das sei zu gefährlich für ihn und ausserdem störten ihn die andern. Wir meinten zwar, nein, aber weil er schon erwachsen war, wollte er sich in die Gefahreneinschätzung nicht reinreden lassen. Die Zeit verbrachte er dann damit, jeden Tag die vier Kilometer von Gourette zum Col d’Aubisque zu wandern, in der Hoffnung, vielleicht doch schon mal Lance Armstrong beim Trainieren für die Tour de France anzutreffen, um ihn in meinem Namen auszuschalten. Allerdings hat er ihn nicht gefunden, nur ein paar Namen von anderen Fahrern auf der Strasse. Selbst wenn das Attentat so sicherlich als gescheitert bezeichnet werden muss, lässt sich Florians Ausflügen auch etwas Positives abgewinnen. Lance Armstrong hat es in seiner Vorbereitung noch nicht in die Pyrenäen geschafft, das heisst, er hat nicht mehr den Erfolgshunger früherer Jahre und bei ihm zieht langsam der Schlendrian ein. Jan Ullrich braucht sich also diesmal keine Sorgen zu machen. Diesmal kann es klappen. Wegen seines grösseren Talents genügt es, wenn er in der letzten Juniwoche so langsam wieder mit dem Radfahren beginnt. Lance Armstrong sitzt wahrscheinlich zur Zeit skrabbelspielend auf der Ranch von George W. Bush in Texas und grübelt, welches Land die USA als nächstes bombardieren sollten. Wahrscheinlich den Irak. Dort, so wird gemunkelt, wird nämlich zur Zeit an dem perfekten Radsportler gearbeitet und Lance Armstrong hat Angst, dass es spätestens ab 2016 mit seiner Dominanz vorbei sein könnte. Die Freundschaft von Lance Armstrong zu George W. Bush erklärt auch teilweise die Unbeliebtheit, der sich ersterer im Peloton erfreut. Cedric Vasseur hat die menschlichen Schwächen von ihm mal wieder im Vélo-Magazine bestätigt. Der fuhr immerhin letztes Jahr mit ihm in einer Mannschaft. Jan Ullrich hat nicht diese Imageprobleme, aber den hat man auch noch nicht mit Roland Koch und Edmund Stoiber beim Golfspielen gesehen. Dazu ist er politisch viel zu weit links. Schliesslich, so stand mal in Bravo-Sport, mag der Jan von Bruce Springsteen «Born in the USA», bekanntlich ein Protestsong. Jan ist quasi der Günter Netzer bzw. der Paul Breitner unter den Radsportlern. Und so ist es auch mit dem Skifahren. Skifahren hat sich, seit es Snowboards gibt, zu einem anerkannten Protestsport entwickelt, womit wieder die essentielle Frage berührt wäre, ob ich den Mädchen denn nun zeigen konnte, was ein richtiger Mann ist. Die Antwort besteht aus einer Silbe. Also nein oder ja. Ich trete entschieden für ja ein.

 

Marielle verabschiedete sich nämlich schon kurz nach Florian aus dem Wettstreit. Sie simulierte einen Unfall, bei dem sie sich das Knie verdrehte. Ein Gips am linken Bein war der Lohn. Ihre Skier hatten danach nichts mehr zu tun als dumm auf dem Balkon rumzustehen. Sofort wurde Marielle von den anderen, die sie um den Gips beneideten, grössere Aufmersamkeit zuteil. Sie wurden richtig hilfsbereit, ausser ich. Ich hatte die ersten zwölf Lebensjahre ununterbrochen eingegipste Beine und war froh, als ich sie in der sechsten Klasse das erste Mal zu Gesicht bekam, obwohl ich mir mehr erwartet hatte. Wenigstens wusste ich schon früzeitig, dass man mit Gips auch kein besserer Mensch ist. So stahl ich ihr lieber die Krücken und nahm mein früheres Training für die Paralympics wieder auf, das ich, seitdem ich selbständig laufen konnte, unterbrochen hatte. Die drei anderen Mädchen waren schon deshalb keine richtigen Gegner, da sie bei dem Equipment gegen die Regeln verstiessen. Die blonde Latetia fuhr nämlich Snow, zu dem man in Deutschland richtigerweise Snowboard sagt. Aber den Franzosen bricht der zweite Teil immer die Zunge, weshalb sie ihre ganze Konzentration in die erste Silbe investieren. Gott sei Dank verstehen sie kein englisch, sonst würde ihnen nämlich auffallen, dass «Ich fahre Schnee» einfach komisch ist, besonders vom Sinn her. Aber schlafen sie weiter beruhigt. Snowboard ist im Grunde auch nur für die erfunden worden, die für Skifahren nicht intelligent genug sind. Das erweist sich schon daran, dass das vor allem Junge tun. Wie man weiss, hat ja die Jugend von heute nichts mehr auf dem Kasten. Es gibt selbstverständlich Ältere, die dumm sind. Die müssen dann auch aufs Snowboard. Latetia wollte das natürlich nicht einsehen und redete sich mit dem fadenscheinigen Argument heraus, die Snowboardlehrer seien hübscher als die Skilehrer. Aber eigentlich habe ich sie auch nie auf den Pisten in Aktion gesehen. Wichtiger waren ihr doch die Pausen.

 

Für die Pausen war auch Angelique sehr dankbar, die eigentlich nur dann mal die Bretter anschnallte, wenn ihr das viele Ausruhen und Essen zu anstrengend wurde. Noch schlimmer, sie hatte ihre Skier kürzer gesägt. Das war eigentlich nicht abgemacht, in der Formel 1 wäre man für sowas disqualifiziert worden, sie entgegnete nur schnippisch, das seien keine Skier sondern Snowpads, mit denen führe es sich leichter. Ich habe davon bei ihr nichts gemerkt. Ich habe sie eigentlich auch nur einmal auf den Snowpads gesehen, am zweiten Tag, nach dem Aussteigen aus der Seilbahngondel. Nach fünfzig Metern hatte ich sie abgehängt und habe gewartet. Als die erste halbe Stunde rum war und sie mich immer noch nicht eingeholt hatte, wurde es mir dann aber zu bunt und ich beschloss, mein Ding zu machen.

 

Am ehesten noch konnte sich Aurelie mit mir messen, sah man davon ab, dass sie ebenfalls mit Snowpads und nicht mit Skiern fuhr. Aber nach dem zweiten Tag hatte sie keine Lust mehr, sich mit mir die ganze Zeit zu streiten, obwohl sie es mir versprochen hatte, und trennte sich von mir. Der Erfindungsreichtum der Wintersportartikelbranche treibt schon seltsame Blüten. Ständig werden neue Sachen erfunden, die angeblich besser sein sollen als die Vorgänger. Irgendwann war mal Langlauf in der Krise, schwups wurde der klassische Stil mit parallelen Skiern durch den freien mit den Scherenschritten abgelöst. Als keiner mehr Lust hatte Skispringer zu sein, weil’s nicht mehr weiter hinaus ging, musste der V–Stil her. Und im alpinen Ski ist es mit den Carving–Ski und ihrer Parabolform genauso, mit der man aber nur gerüchteweise besser schwingt als früher. In Gourette habe ich sogar mal einen gesehen, der seine Füsse wie auf Skiern festgeschnallt hatte, aber nur auf einem Brett stand, so als wenn die Skier über nacht zusammengefroren wären. Ich wollte ihn auch fragen, wie sich seins nennt, hab ihn denn aber nie mehr erwischt.

 

In einem kurzen Zwischenresümee gehe ich wohl als Gewinner hervor. Allerdings gibt es immer noch Leute, die das Können daran festmachen, wie oft man sich in den Schnee packt. Unter diesem Gesichtspunkt lag ich sogar hinter Florian. Pro Tag fiel ich nämlich schon so zwei, drei mal hin. Das hatte Florian auf den fünf Metern, die er sich fürs Skifahren Zeit genommen hatte, natürlich nicht überbieten. Mein Verstand sagte mir zwar, in diesem Fall wäre ich wohl besser als Alberto Tomba und Hermann Maier, da ich pro Jahr höchstens eine Woche zum hinfallen hatte. Aber der Kopf ist nicht der Bauch. Und ferner sind die Eltern stolzer auf einen, hat man den Sturzschnitt wieder ein wenig gedrückt. Dies erreicht man, indem man weniger fährt und durch eine strengere Auslegung des Kriteriums: «Was ist kein Sturz ?» Antwort: «Kein Sturz ist es vor allem dann, wenn das Hinfallen nach dem Abgehen des Skis erfolgt oder dabei.» Das legte ich sehr grosszügig aus und war schnell einige Stürze los. Da ich die Anzahl immer erst am Abend in mein Skiheft eintrug, kam es auch schon mal vor, dass ich mich an die Reinfolge, ob Hinfallen–Ski ab oder Ski ab–Hinfallen, nicht mehr genau erinnerte. Das legte ich dann meistens zu meinen Gunsten aus. Manchmal gelang es mir sogar, bemerkte ich drohende Gefahr rechtzeitig, noch schnell mit meinem Skistock hinten auf die Bindung zu drücken, damit diese noch vor meinem Kontakt mit dem Schnee aufging. Alles in allem bin ich mit dieser Strategie ohne einen Sturz die schwarze Piste runtergekommen, was mich noch eine Woche danach mit Stolz erfüllt.

 

Beim weniger Fahren hätte ich mich an meinen weiblichen Mitstreiterinnen orientieren können. Aber ich war noch nie einer, der es sich so leicht machte. Darum musste ich auch bis Donnerstag warten, bis ich mal, ohne selbst Schuld zu sein, aussetzen durfte. Der Nebel war an dem Tag so dicht, dass ich mit meiner Brille genauso wenig sah, wie sonst ohne. Und blind macht das Skifahren ja keinen Sinn. Donnerstag entschädigte mich zum Teil für das Unwetter, das man uns für Mittwoch versprochen hatte, ohne das Versprechen einzuhalten. Aber so sind die Franzosen. Versprechen viel, wenn der Tag lang ist, selbst an kurzen. Meine Klumpfüsse waren ebenfalls ein Trumpf. Sie schmerzten in den drückenden Skischuhen regelmässig. Ich machte diese an jedem Lift unten auf und oben musste ich sie folglich wieder festzurren. Wertvolle Minuten verstrichen so zu meinen Gunsten. Und als ich dann auch noch an einer Achillessehnendehnung laborierte, lieferte mir das eine glaubwürdige Begründung dafür, mal mit dem Skifahren etwas kürzer zu treten, statt 4–5 Stunden am Tag nur 2–2,5 auf den Pisten zu verbringen. So kam ich sogar dazu, die wichtigsten Wintersportvokabeln zu pauken, Salbe, Bandage, Gips, Kostenerstattung. Die Woche hat mich also nicht nur in meinem Skifahrerselbstbewusstsein gestärkt, sondern auch sprachlich weiter gebracht.