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Dreiundzwanzigste Woche

Wer eine Woche lang mit vier Französinnen in einer Ferienwohnung verbringt, der darf sich nach Meinung ihrer Landsleute glücklich schätzen. «Combien de fois tu as baisé?», war die häufigste Frage, die mir anschliessend im Wohnheim und der Uni gestellt wurde. In Frankreich dürfen sich Frauen und Männer nämlich nur zum Ficken treffen. Jeder weitere Kontakt ist strengstens untersagt. Darum will mich auch nie eine Französin zum Kino einladen. Das Skifahren sollte zum Vorwand werden, in den Hintergrund rücken und den sexuellen Pflichten Platz machen.

 

Ich konnte allerdings keine befriedigende Antwort liefern. Man nimmt mir bis heute nicht ab, dass ich ohne Sex über die Runden gekommen bin, dabei hätte der alles nur noch schlimmer gemacht, ein unvorstellbares Grauen. Das Skifahren geriet zwar schnell zum Vorwand, aber nicht um einen Grund für Sex zu haben, sondern eine Ausrede, keinen machen zu müssen. Alle Beteiligten sind dieser Beschäftigung dafür noch heute dankbar. Das Skifahren rückte auch in den Hintergrund, aber die Pflichten bildete der permanente clash of civilisation. Clash hat hier übrigens nichts mit der Band zu tun, die durfte ich nämlich gar nicht hören. Statt ihnen von meinen sich nicht ereigneten Bettstorys zu berichten, fordere ich wissbegierige Franzosen auf, von mir wissen zu wollen, ob mir die Skiwoche in Gourette gefallen hat und warum nicht? Aber diesen Wunsch erfüllen sie mir nicht, wohl aus Furcht vor dem schlechten Bild, welches ich von ihren Landsfrauen zu zeichnen gewillt bin. Aber was bleibt mir andere übrig, manchmal bin selbst ich nicht tolerant. Gut, mit einer positiven Herangehensweise habe ich mich nicht dabei erwischt, als ich die Reise angetreten habe. Aber im Nachhinein oder eigentlich sofort erwies sich dies als weise. So hatte ich in meinem Gepäck wenigstens Platz für meine Pavement-CD (Crooked Rain, Crooked Rain) und meinen Diskman. Aurelie, Marielle, Latetia und Angelique (die Namen müssen nicht der Wirklichkeit entsprechen, tun sie es doch, dann habe ich sie nur aus Bequemlichkeit nicht geändert) bemühten sich gleich, auch den letzten Zweifel auszuräumen, dass die Franzosen entgegen aller Beteuerungen doch keine Kulturnation sind. Der Einzige, der sich das in Frankreich zu sagen traut, ist ja der Chef von Vivendi.

 

Angelique kennt nämlich, da sie im französischen Baskenland wohnt, nur die wichtigsten Ecken und Winkel in Pau. Das schliesst das Wohnheim, obgleich sie Florian schon mal hingebracht hat, natürlich aus. Weil Florian und ich mit ihr nach Gourette fahren mussten, blieb uns nichts anderes übrig, als nach Lons zu McDonald’s zu wandern, dem einzigen paloiser Ort, zu dem sie auch blind hinfindet. Dort feiert sie jedes Jahr ihren Geburtstag. Eigentlich erlaubt die McDonald’s-Satzung (in Frankreich sagt man nicht wie in Deutschland McDoof, was mir zum Beispiel viel zu verniedlichend klingt, sondern McDo) nur Kindergeburtstage, aber Angelique hat mit dem Management verhandelt und es überzeugen können, dass doch heutzutage die Kindheit nicht einfach mit 21 aufhört. Man sei doch so jung, wie man sich fühle. Das sei doch der Fortschritt zu früher. Das McDonald’s von Lons liegt von unserm Wohnheim ungefähr so weit entfernt, wie der Wannsee vom Cube Club, nur dass es in Pau keinen ernstzunehmenden öffentlichen Nahverkehr gibt. Zur Belohnung war sie nicht pünktlich. Nach unserer Vermutung hatte sie vorher eine Vereinbarung mit dem Restaurant (dieser Begriff ist nicht ernst gemeint) geschlossen, uns so lange schmoren zu lassen, bis unsere Ungeduld und der Hunger unsere Prinzipien und den Ekel übermannt hatte. Aber nach anderthalb Stunden hatten wir immer noch nichts gegessen – wir hatten nämlich vorher noch eine Packung Waffeln bei Lidl gekauft und meisterten die Langeweile damit, dass wir heimlich auf den Bildschirrm schmulten, wo der McDonald’s-Sender lief. So ist Angelique schliesslich mit ihrer Freundin Latetia irgendwann doch aufgetaucht. Von Angelique wussten wir ja schon, dass sie hässlich ist, Latetia war hübscher, aber eben auch nur hübscher als Angelique. Wo sollte man da die Motivation her nehmen, sich Mühe zu geben. Schliesslich sind Florian und ich zwei hübsche Kerle, ich noch ein bisschen hübscher, die gerne auch mal mit hübscheren Begleiterinnen angegeben hätten. Und dann bestätigte das Verhalten auch noch die Optik. Die Brille konnte ich ja noch absetzen, aber nicht alle anderen Sensoren auch.

 

In der Ferienwohnung bekamen Florian und ich den Flur mit dem Doppelstockbett, währdend die vier Mädchen die beiden Zimmer für sich beanspruchten. Unser Bett lag gegenüber vom Bett und der Toilette, was den Vorteil hatte, dass wir überprüfen konnten, wer sich in der Nacht wie oft duschte und wer wie oft aufs Klo musste. Das wollten wir aber gar nicht wissen, weshalb wir meistens den Vorhang zuzogen, um wenigstens ungestört onanieren zu können, wenn uns schon andere Freuden erspart blieben. Für uns waren die vier schnell so interessant wie die Männerwelt, weshalb es uns nach kurzer Zeit einen feuchten Dreck kümmerte, dass zwischen WC und Bad die Wand nur bis in Kopfhöhe reichte, damit nach einem Geschäft die Luft besser abziehen konnte. Wir gingen trotzdem unseren Bedürfnissen nach, selbst wenn sich im Bad gerade eines der Mädchen für ihren Snowboardlehrer schminkte. Die Mädchen machten dann vom Bad die Tür auf, weshalb der Geruch dann in unseren Doppelstockbetten stand. In diesen Momenten geriet ich immer in einen ernsten Zielkonflikt. Am liebsten hätte ich nämlich darauf die Tür zu ihrem Zimmer aufgestossen, um den Gestank weiterzureichen. So hätte ich sie vielleicht dazu genötig, das Fenster zu öffnen, womit endlich der Zigarettengestank raus gekonnt hätte, für dessen Produktion sie trotz unserer Bitten nicht auf den Balkon verschwinden wollten, möglicherweise aus Angst, wie hätten sie ausgesperrt, wozu wir auch Lust hatten, uns aber der Mut gefehlt hätte. Letztendlich fürchtete ich mich aber vor Mylene Farmer, M und J.J. Goldman, die ununterbrochen höllenlärmend aus ihrem französischen Ghettoblaster kamen und zog es vor, statt die Tür aufzusperen, zur Strafe im Stehen zu pullern, ohne die Toilettenbrille hochzuklappen.

 

Um Farmer, M und Goldman kommt man wegen der Französischquote schon beim täglichen Radiohören nicht herum. Aber da werden von einem Sänger nicht über 500 Lieder am Stück gebracht. Ich ertrug diese Körperverletzung schon bei geschlossener Tür im Flur nur dann, wenn ich selber auf meinem Diskman ganz laut Musik hörte. Wie sollte ich es da fertigbringen, mich in ihr Zimmer zu wagen, wo Aurelie, Angelique und Latetia zu diesen Interpreten für die neue Popstarstaffel probten, bei der sie sich zu viert als Team bewerben wollten. Marielle konnte leider nicht mittanzen, da sie sich das Knie verdreht hatte und mit Krücken und Gips den anderen immer nicht bei der Choreographie folgen konnte. Sie war darüber schon ein bisschen betrübt, tröstete sich aber damit, dann eben wie Gary Barlow bei Take That für die Songtexte und das Singen zuständig zu sein. Das hatte der ja  auch quasi im Sitzen gemeistert. Um für das Schreiben cooler Paroles auch gewappnet zu sein, war es unentbehrlich, viel zu lesen, dem Marielle mit Femme actuelle, Jeune et Jolie und Voici! Nachzukommen versuchte. Damit Florian und ich nicht so abwertende Blicke warfen, bezeichnete sie diese Revues einfach als livres. Wir fielen natürlich auf diesen Trick nicht herein. Die einzigen Bücher, die sie lasen, waren die Harry Potter-Bände, das heisst, Band eins bis drei, so schnell geht das ja auch nicht. Latetia und Angelique lasen nicht mal das. Die hatten rechtzeitig erkannt, dass Lesen Gott sei dank seit Einführung der Handys nicht mehr nötig ist. Jetzt gibt es eine sinnvollere Beschäftigung. Da spart man den Bibliotheksausweis.

 

 

Was sollte da schon an Gesprächen und interessanten Moementen rauskommen: keine, wie ich deutlich zu spüren bekam, nachdem ich für mich und Florian leichtsinnig eingewilligt hatte, uns mit Marielle und Aurelie in eine der schnuckligen Bars in die Gouretter Downtown zu setzen, obwohl wir beide gar keine Lust dazu hatten. Das zeigt einem wieder, man sollte im Leben keine Kompromisse eingehen. Mit ihrem Vorschlag sahen sie ihre Aufgabe offensichtlich als erledigt an, weshalb es wieder mal an mir war, ein von Vornherein zum Scheitern verurteiltes Gespräch am Leben zu erhalten. Dabei ist doch bekannt, wie schwer es mir fällt, mich auszudrücken. Zum Scheitern war das Gespräch deshalb verurteilt, weil keiner Interesse am anderen hatte. Aber ich bemühte mich wenigstens noch um die gesellschaftlichen Konventionen, selbst wenn ich wohl ein der derjenigen bin, die tagtäglich am stärksten unter ihnen leiden. Ergebnis: über meine Witze lachte ausser Florian niemand. Ich kann die Vermutung nicht ganz unterdrücken, dass es am fehlenden Verständnis lag, sonst hätten sie nicht so pikiert und gekränkt reagiert, als ich Aurelie darauf aufmerksam machte, am Tisch ins Taschentuch zu schnauben, sei ein nicht zu entschudligendes Vergehen. Ich ging eigentlich davon aus, meine Erklärung, ich hätte eine Technik entwickelt, den Nasenschleim bei Bedarf immer zwischen den beiden Löchern hin- und herzirkulieren zu lassen und Hochziehen sei eh gesünder als Ausschnauben, wie schon der grosse Dichter Ahne bewies, sei Übertreibung genug. Die Deutsch-Französische Freundschaft, von der man hier übrigens nichts mitbekommt, war danach nicht mehr das, was sie mal war. Ihnen wollte beispielsweise keine Antwort mehr auf die Frage einfallen, weshalb sie eigentlich Deutsch studieren?

 

Aber möglicherweise boykottierten sie uns auch. Möglicherweise verübelten sie uns unsere Rechthaberei. Rechthaberisch liessen wir nicht davon ab, darauf zu bestehen, es sei ein ressourcenschonenderes Verhalten, statt Plastebechern richtige Gläser zu verwenden und man könne Wasser sparen, wenn man beim Abspülen auf den Stöpsel zurückgreift. Wenn wir uns auch rechthaberisch zeigten, so doch zu recht. Sie waren dafür uneinsichtig und bewiesen mal wieder, wie nah die Franzosen doch den Amerikanern sind und dass sie nicht beabsichtigen, den Planeten zu retten. Uns gelang es auch nicht, sie zu überreden, 5 Minuten Nachrichten am Tag auf France Inter zu hören, berge keine grossen Gesundheitsrisiken. Zu viel der Nahostkonflikt, zu wenig die Lottozahlen, wurde unser Begehren abgelehnt, France Inter wegen zu guter Musiksendungen gesperrt und Funradio eingestellt.

 

Was sollten Florian und ich da anderes tun, als die Zeit in unseren Hochbetten mit Lesen totzuschlagen. Da hatten wir wenigstens keinen Blickkontakt mit den vieren. Normalerweisen schafft man ja im Urlaub immer nicht mal die zwanzig Seiten, die man sich vorher gesetzt hat. Ich diesmal schon. Candide von Voltaire und Les Confessions von Rousseau sollten meinen Eltern, die diese Zeilen hoffentlich vor Augen haben, Beweis genug sein, dass ich entgegen ihren Befürchtungen kein Absacker geworden bin, sondern den Kanon kenne, in dem man sich bewegen muss, um als Bildungsbürger angenommen zu werden. Und dann ergänzte ich das Ganze noch Um Les Inrockuptibles, womit mir zu meiner Vervollkommnung nur noch die Cahiers Cinéma fehlen, aber wenn ich ehrlich bin, so habe ich mir das Heft in erster Linie wegen der beigefügten CD gekauft, auf der der Song der John Spencer Blues Explosion und die Hip Hop Version von Clint Eastwood eine weitaus bessere Figur abgeben, als die Kollaboration von Marianne Faithfull und Beck. Saul Bellow hat mal wieder einen Roman geschrieben, diesmal den besten, obgleich er doch schon einen Literaturnobelpreis von 1976 hat. Und um ein guter Schrifsteller zu sein, braucht man auch eine Biographie, die als jüdischer Menschewik in Russland der Revolutionszeit beginnt und sich, weil einen die Bolschewiken nicht wollen, nach Amerika verlagert, um von dort aus besser zu Trotzki nach Mexiko fahren zu können und den amerikanischen Antisemtismus mitzuerleben und die Kommunistenhatz der Fünfziger. Dafür gibt’s als Belohnung in Chicago die Mafia und in New York den Jazz. Damit kann ich leider nicht aufwarten, weshalb ich mich entschlossen habe, erst mal den Phonetikkurs zu besuchen. Am Ende des Semesters will ich dann Les Inrockuptibles fehlerfrei aussprechen können. Wer mir die Aufgabe erleichtern will, kann mir schon vorher die Lautschrift schicken. Ich wäre immerhin damit hier der einzige, denn die Franzosen sprechen das Heft gar nicht aus oder sagen einfach Les Incorruptibles, was ich dann immer korrigieren muss.

 

Der Mensch lebt nicht nur von Literatur allein. Darum widmeten Florian und ich uns auch dem Lästern. Ich hatte am ersten Tag noch versucht, mit den Mädchen über ihn herzuziehen, aber da gab’s weniger Material als wenn’s um sie ging. Das ist eigentlich eine von Traurigkeit geprägte Existenz, in der wir schwimmen und immer wieder auf uns selbst zutreiben. Dabei mögen wir uns beide eigentlich gar nicht. Aber was bleibt einem anderes übrig, als befreundet zu sein, wenn die anderen noch schlimmer sind. Wir hatten ja zum Anfang die feste Absicht, die Franzosen oder zumindest eine Französin gut zu finden. Man wird hier automatisch Nationalist, ob es einem gefällt oder nicht. Florian spielt schon mit dem Gedanken, in Pau einen Kreisverband der NPD zu gründen. Aber immerhin scheidet Nantes aus der Championsleague aus. Dann muss man endlich im Fernsehen keine langweiligen Paarungen mit diesem Club anschauen, obwohl zur gleichen Zeit viel interessantere Mannschaften spielen.