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Vierundzwanzigste Woche

Den grössten Teil seiner Zeit opfert der Erasmusstudent dem Computer. Der Computer ist quasi seine Erkennungsmarke. Kein einheimischer Student käme hier in Pau auf die Idee, sich schon zwei Stunden vor Öffnung der Informatikräume anzustellen, um auch ja einen Rechner abzubekommen und obendrein noch die Verantwortlichen zur Weissglut zu bringen, weil er die letzte E-mail um 18:36 immer noch nicht zu Ende geschrieben hat, obgleich doch eigentlich schon seit 6 Minuten Feierabend ist. Ich bin nicht da besser, wenn auch in diesem Semester eher unfreiwillig. Im ersten hatte ich noch den lieben langen Tag Zeit, mir selbst Emails mit Grüssen aus Deutschland zu schicken, weil das dort niemand übernehmen wollte und mich anschliessend über die viele Post zu freuen.

 

Mittlerweile räumen mir jedoch meine universitären Verpflichtungen keine Gelegenheit mehr dazu ein. Um schneller, oder besser um doch noch ein wenig Französisch mitzubekommen, habe ich nämlich zwei Klassen (In Frankreich existiert kein unikompatibler Begriff. Deshalb müssen die französischen Studenten weiterhin in Klassen zur Schule gehe, nur dass diese Uni genannt wird) übersprungen, und befinde mich nun in den Übersetzungskursen der Maîtrise, dem vierten Studienjahr. In diesem kommt niemand umhin, seine Übersetzungen auch abzutippen. Aus mehreren Gründen: erstens soll man auf diesem Bildungsniveau nicht nur gut übersetzen können, sondern auch unter Beweis stellen, dass man sich selbst in der neuen, der multimedialen Welt zurechtfinden, vor der sich bekanntlich nur noch Feiglinge und Franz Joseph Strauss drücken. Aber letzterer ist ja zum Glück noch rechtzeitig gestorben, bevor das einer gemerkt hat. Mir jedenfalls bereiten die zeitgenössischen Herausforderungen keine Probleme. Wenn ich komme, sind die Rechner schon an, fürs Ausschalten bin ich auch nicht verantwortlich, und Textverarbeitung gehörte schon lange zu meinen Stärken.

 

Ich bin heute meinen Eltern dafür dankbar, mich Mitte der Achtziger, es war, glaube ich, in der dritten Klasse, in einen Schreibmaschinenkurs gezwungen zu haben. Die Tastatur ist, abgesehen von einigen landestypischen Zugeständnissen an die Grande Nation in Frankreich, die gleiche. Mehr braucht man im Grunde nicht, allenfalls noch das Rechtschreibprogramm, aber da kenn ich mich nicht so aus. Ferner sind Fehler auch nur inoffiziell schlimm. Viel wichtiger ist das Erscheinungsbild. In dieser Frage vermitteln mit dem Computer geschriebene Texte netterweise den Eindruck, sie enthielten weniger Orthograpie- und Grammatikschnitzer, als handschriftlich verfasste. Dies ist der zweite Grund. Wer sich nicht wirklich verbessert, soll wenigstens die Chance habe, so zu tun. Wer kennt schon heute noch den Unterschied zwischen Sein und Schein? Ich nicht. Trotzdem hat sich mein Rückgriff auf Bits und Bites bezahlt gemacht. Früher hatte ich immer alles falsch, weil meine Klaue so viel Interpretationsspielraum bot, dass die Korrektoren sie durchgängig zu meinem Nachteil auslegten.

 

Die dritte Begründung versucht der gesellschaftlichen Forderung nach einem alters- und statusgemässen Outfit Rechnung zu tragen. Spätestens bis zum Ende des Studiums muss nämlich jeder Student so lange vor dem Kasten gehockt haben, dass er die Uni wenigstens mit einer Brille mit 7.6 Dioptrin verlässt. Auf die Strahlung ist hier in Pau Verlass, da nur die Bildschirme für die Dozenten, wie in Deutschland vorgeschrieben, alle zwei Jahre gewechselt werden, während wir an Apparaten sitzen, welche die Unileitung durch Zufall 1990 während eines Ausflugs in die Sowjetunion auf einem Moskauer Trödelmarkt ersteigert hat. Ich bin aber so klug gewesen, gleich von Anfang an meine Brille aufzulassen, die ich eh schon hatte. Dadurch sind ihre Bemühungen praktisch zum Scheitern verurteilt, denn die Strahlung prallt von meinen Gläsern nur unverrichteter Dinge wieder ab. Das ist auf jeden Fall Kontaktlinsen überlegen, die nur die Pupillen schüzten, aber nicht den restlichen Augapfel.

 

Für mich besteht dennoch kein Grund zur Freude. Gegen die zu übersetzenden Texte bin ich schliesslich nicht geschützt. Schon der Thème-Allemand -Kurs (Französisch-Deutsch) hat es in sich, in dem es das ganze Semester über um Gentechnik und Atomphysik geht. Ich habe nicht ohne Grund schon in der vierten Klasse den Entschluss gefasst, sämtliche Naturwissenschaften bei der erstbesten Gelegenheit abzuwählen, auch die, die ich damals noch gar nicht hatte. Dieses Vorhaben habe ich dann in der 12. in die Realität umgesetzt. Mit Mathe ging das nicht so, das musste ich bis zum bitteren Ende ertragen. Diejenigen, die zwei Jahrgänge über uns waren, mussten sich wenigstens nicht mehr in der 13. Damit rumschlagen. Unterdessen hat sich die Situation noch weiter verschärft. Heutzutage kann man Mathe nicht mal mit einem Germanistikstudium entfliehen.

 

Atomphysik und Gentechnik sind gleichwohl noch viel schlimmer. Gentechnik ist ausserdem zur Zeit total out bei der Jugend. Deshalb wollte ich mich frühestens als alter Mann damit beschäftigen. Aber vielleicht bin ich das schon längst und habe das nur nicht gemerkt. Diese Domains haben aber wenigstens noch den Vorteil, dass man nur die Füllwörter ins Deutsche zu übersetzen hat. Wer weiss, dass et und bedeutet, ou oder und probablement wahrscheinlich, der hat den schwereren, also den intellektuellen Teil der Leistung gemeistert. Der Rest ist sture Transkription. Die Wissenschaft greift ja weltweit auf dieselben Begriffe zurück. Da braucht man lediglich die Substantive gross zu schreiben und manchmal die Pluralmorpheme ans Deutsche anzupassen. Wenn die Dozentin widerspricht, weisen wir deutschen Studenten sie freundlich aber bestimmt darauf hin, dass das Deutsche unsere und nicht ihrer Muttersprache ist, folglich die Fehler nicht bei uns sondern bei ihr zu suchen sind.

 

Die Retourkutsche kommt in der Version (Deutsch-Französisch), in der wir ausschliesslich landwirtschaftliche Texte zu übersetzen haben. Manche aus dem Kurs bezeichnen die dadurch erzeugte Spannung hinter vorgehaltener Hand als nicht existent, andere hingegen begründen offen ihre nicht vorhandene Lust. Die Begeisterung ist nicht ungeteilt. Angeblich sei das für die französischen Maîtrise-Studenten vorgeschrieben, um sie auf ihre spätere berufliche Tätigkeit vorzubereiten. Wenn meine spätere berufliche Tätigkeit vorsähe, mich von Landwirtschaftstexten ärgern zu lassen, würde ich zum Beispiel einen Wechsel des Studienfachs vorziehen. Das scheint bei den Franzosen nicht anders zu sein. Die beiden, die wir anfangs noch besassen, kommen jedenfalls nicht mehr, die eine, weil sie, wie sie behauptet, für den Führerschein proben muss. Keine Frage, eine vorgeschobene Lüge. Wer bis zu dem Alter noch keine Fahrerlaubnis hat, der lernt Autofahren eh nicht mehr.

 

Somit sind wir vier Deutschen unter uns, was die Spekulationen wieder aufkommen lässt, ob es nicht eine andere Erklärung dafür gibt, weshalb wir uns mit «Steaks vom Weizenacker» und «Öko-Vision mit wilden Pferden» zu beschäftigen haben. Die eine Studentin aus Regensburg vermutet, weil Bayern mal ein Agrarland war und die Franzosen auf die deutsche Kultur eingehen wollen. Florian und ich, beide aus dem Osten, unterstützen aber eher die These, das sei eine Anspielung auf die LPG. Für Leute, die nicht in dem Kurs sind, mögen das wilde Mutmassungen sein. Wir finden das aber ziemlich stimmig. Ausserdem haben wir zum Mutmassen gar keine Zeit. Die klaut uns schon die Frage, wie wir folgende Sätze ins Französische bringen sollen: «Wenn Hans Kampf sich die Zukunft ausmalt, sieht er Herden lang behörnter Rinder gemächlich grasend die Auen des Rheins und der Issjel hinaufziehen. Schwarze, martialisch aussehende Rinderbullen mit ausladenden, säbelförmigen Hörnern lagern zwischen Korbweiden und hohen Holunderwischen. 1932 setzten Biologen hier die ersten Heck-Rinder aus, kompakte Wiederkäuer, die den ausgestorbenen Auerochsen ähneln. Zusammen mit Rot- und Rehwild leben die Tiere seither sommers wie winters in Oostvaardersplassen. Das Ergebnis sieht folgendermassen aus: Ein Mosaik aus Wäldchen und Offenland ist dort entstanden, artenreiches Grünland, das anderswo durch schweisstreibende Mahd und Entbuschung vor der Verwaldung bewahrt werden muss.» Oostvaardersplassen ist nicht das einzige Wort, wegen dem ich für anderweitige Tätigkeiten in meinem Terminkalender mittlerweile keinen Platz mehr habe. Ich bin aber immer noch dabei, nach der Übersetzung für diesen Ort in meinem Pons-Wörtbuch zu suchen, auf das ich in Deutschland eigentlich immer sehr viel gegeben habe. Wenn es sich weiter als so wenig hilfreich erweist, werde ich es aber wohl an den versteigern, der am wenigsten dafür haben möchte.

 

Die Tragik meiner Lage erklärt sich nicht allein damit, dass ich bei jedem zweiten Wort keine französisches Äquivalent im Wörterbuch finde. Mein Gehirn  bemühe ich vorsorglich nicht, um nicht zum Scheitern verurteilt zu sein. Obendrein weiss ich bei jedem dritten Wort nicht mal, was ich da eigentlich übersetzen soll. Von Auerochsen habe ich zwar schon mal gehört, wenn ich sie mir bildlich vorstellen soll, dann sehe ich, wenn ich sehr phantasievoll bin, eine Kuh. Kühe habe ich nämlich schon oft auf dem eine Zeltplatz am Parsteiner See gesehen, weil meine Eltern dort Dauercamper sind. Aber Kuh und Auerochse soll ja nicht wirklich dasselbe sein. Als ich jedoch diese Woche am Computer nicht darauf kam, was Wollsäue, Exmoor-Ponys, Weisse gehörnte Heidschnucken und Moorschnucken sind und zweitens auch nicht, wie die in Frankreich genannt werden, da wurde ich im Laufe der fünften Stunde langsam unkonzentriert. Als ich aus dem Fenster, an dem ich sass, und die ganzen französischen Studenten auf dem Campus sah, die sich in ihren Trägershirts sonnten, musste ich daran denken, dass sie, wenn ich im Winter vielleicht mal mit dem Text fertig werden sollte, dann gewiss nicht mehr so gut aussahen mit ihren Rollkragenpullovern.

 

Sie wären dann alt und ich hatte nichts zu erzählen. Ich könnte mich mit ihnen auf Französisch höchstens über Arche-Bauern, Hinterwälder Kühe, Schafe mit Klauen, welche gegen Nässe unempfindlich sind und deshalb nicht verfaulen, sowie über Moorgräser unterhalten. Da ich bis dahin alle anderen Sachen, die mich geprägt bis heute geprägt haben, vergessen hatte, würde ich solche Themen vielleicht sogar gut finden. Allerdings dürften die Französinnen nichts dafür übrig haben, weshalb doch wieder nur die Deutschen bleiben würden, die ebenfalls in dem Kurs sind. Sollte sich wider Erwarten doch mal eine Französin dafür interessieren, würde sie mir spätestens dann den Rücken zuwenden, wenn ich daran scheiterte, ihr zu erklären, was das eigentlich war, worüber ich da sprach. In solchen Momenten gerate ich dann schon mal ins Sinnen darüber, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte ich früher als kleiner Junge meinem Baruther Grossvater aufmerksamer dabei zugeschaut, wie er auf seinem Traktor die Felder bestellte und  ihn häufiger zum Ausmisten in den Schweinestall begleitet.

 

Doch meistens hat mich der Trotz schnell wieder im Griff, besonders, da mir wieder einfällt, dass ich in der Unimensa, seit einem halben Jahr jeden Tag Steak mit Pommes esse, weil es die beiden einzigen Begriffe aus der Gastronomie sind, deren französischen Namen ich kenne und es mir zu peinlich ist, auf die Bestandteile der anderen Gerichte zu zeigen und zu sagen: «Je prend ça, ça et un peu de ça.» Und dann nervt es mich, wenn neben mir am Computer meine Nachbarin ständig den Nasenschleim hochzieht und ich nicht weiss, was heisst: «Hör mal uff zu schniefen! Wenn de Heuschnupfen hast, dann nimm gefälligst Taschentücher! So kriegst de nie’n Mann.» Mir ist das in das in solch einem Fall doch zu aufwändig, diese Sätze erst mühsam mithilfe des Wörterbuchs zusammenbauen zu müssen. Das kommt auch irgendwie nicht spontan genug. Darum hat es bei mir doch nur zu einem deutschen «Blöde Kuh!» gereicht. Was den Text betriftt, so habe ich sämtliche Schnuckenvarianten mit mouton, also Schaf übersetzt. Mehr war nicht drin.

 

Ich beneidete die eine Deutsche, die sich extra einen spanischen Freund zugelegt hatte, der die Übersetzungen immer für sie erledigt, obwohl er gar kein Deutsch kann. Er erledigt seine Aufgabe aber dennoch so gut, dass sie ihn auch noch weiter in Deutschland in einem Gastarbeiterstatus beschäftigen will. Das sind eben die Vorteile der europäischen Integration, dass Menschen  aus den Entwicklungsländern auch von unserm Wohlstand profitieren können. Für mich gibt’s unter den Spanierinnen nichts zu holen. Ich kann mich folglich nur vor der Arbeit drücken, indem ich sie nicht erledige. Aber dazu fehlt mir die Chuzpe. Und ausserdem bin ich einer der wenigen Menschen, bei denen die Erziehung gefruchtet hat.