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Fünfundzwanzigste Woche

Goran Bregovic war offensichtlich noch weit. Das Zenith lag in E0. Losgefahren waren sie in D8 vom Place George Clemenceau. Stephan suchte auf der Pau-Karte nach dem augenblicklichen Standort. Boulevard de la Paix? Der war aber lang. Ecke Avenue Leo Blum. I4. Das waren noch 8 Felder bis zum Konzert. Vier Buchstaben nach links und vier Zahlen nach oben. Vorhin warens 9 gewesen. Ein Buchstabe nach rechts und 8 Zahlen nach oben. Und für dieses eine Feld hatten sie nun eine dreiviertel Stunde an der Bushaltestelle rumgesessen und eine langweilige Stadtrundfahrt auf sich genommen, bei der ihnen die Sicht zusätzlich noch durch eine dreist blendende Sonne verunstaltet wurde. Stephan beschloss, seine Schwester nicht darüber aufzuklären, was sie wirklich an Wegstrecke gewonnen hatten und vor allem, welche noch vor ihnen lag. Die hatte, soweit er das wusste, gerade mal wieder ihre Regel. Diesen Verdacht entnahm er dem Umstand, dass sie ihn seit gestern so häufig kritisierte, obwohl sie ihn doch nur für eine Woche in Pau besuchte. Mädchen und Frauen nehmen ihre periodische Unzufriedenheit immer gerne zum Anlass, den Freund zu kritisieren. Ist der gerade nicht verfügbar, wird eben auf den Bruder ausgewichen. Und dann auch noch der Sonnenbrand vom gestrigen Skifahren in Cauterets. Es war also ratsam, der Gemütslage nicht noch Argumente zu liefern. Der Frage: «Ist es noch weit?», begegnete Stephan daher, geübt ausweichend: «Wir sind schon näher dran.» Das war nicht mal gelogen. «Wie viel näher denn?» «Spürbar.» «Kannst du’s mir mal auf der Karte zeigen.» «Nee.» «Warum nicht?» «Äh…., na, weil ich  der grosse Bruder bin. Und ausserdem verstehen Mädchen nichts vom Kartenlesen.» Meinungsverschiedenheiten mit ihr schlichtete er meistens, indem er auf seine Autorität als älterer und männlicher Part im Geschwistergefüge verwies. Allerdings war sie nicht mehr fünf sondern 19, weshalb sie die wissenschaftliche Falsifizierbarkeit seiner Theorie von der Überlegenheit des männlichen Geschlechts nach und nach weniger in Frage stellte. Bald würde sie studieren und dann würde es auch nicht mehr reichen, damit zu kommen, dass ja ihre Mutter auch oft daran scheiterte, unseren Vater durch Dresden zu ihren Eltern zu lotsen.

 

Dieses scheiss Pau. Sowas wie öffentlichen Nahverkehr brauchten die hier wohl nicht. In der Woche wurde der Busverkehr um sieben Uhr eingestellt und am Sonntag fuhr gar nur eine Linie, und die auch nur alle vier Stunden, um den Autoverkehr gleichbleibend hoch zu halten und den Franzosen eine Ausrede zu geben, warum sie, was die Nutzung des Autos betrifft, den Amerikanern so ähneln. Der Bus am Sonntag arbeitete im Grunde die Strecke der Busse, die nur in der Woche verkehrten, gleich mit ab und sollte somit auch in der Nähe vom Zenith, der Konzerthalle, vorbeischauen. Dies hatte Stephan zumindest der Angestellte der paloiser Verkehrsbetriebe versichert, früher selbst Busfahrer, aber nun, seitdem diese nicht mehr fuhren, mit der Aufgabe betraut, die nichtwissenden wartenden Touristen an den Haltestellen davon in Kenntnis zu setzen, dass diese Busse nicht mehr fuhren. Der Bus fuhr dann zwar überall in Pau mal an der Nähe vorbei, nur nicht durch die Nähe, in deren Nähe das Zenith lag. Stephan hatte sich bemüht, auf der Karte die Fahrstrecke mitzuverfolgen. Irgendwann war er sich aber nicht mehr sicher, ob das überhaupt noch eingezeichnet war, weshalb eer mit dem Plan zum Busfahrer vorging: Nein, wo sie sich gerade befinden, könne er ihm nicht zeigen, das sei aber hier die Station zum Aussteigen. Dann hatte er mit seiner linken Hand noch nach Nordwesten gedeutet. Die Auskunft war nicht gerade dazu angetan, zukünftigen Paubesuchern die paloiser Busfahrer zu empfehlen. Ankommen hatte bei denen wohl eher was mit Lotto denn mit Fahrplan zu tun. Vielleicht setzte die Stadt auch am Sonntag, um Geld zu sparen, Aushilfskräfte ein, bei denen es reichte, wenn sie die Fahrgäste ohne Unfall ein wenig durch die Gegend zu chauffierten.

 

Er musste das ganze nun ausbaden und seiner Schwester wenigstens bis zur Hälfte der Strecke deren wahre Länge vorenthalten. Danach konnte er ihr immerhin sagen, der grösste Teil sei geschafft. Wichtig war Ablenkung, am besten sie in ein Gespräch verwickeln, damit sie auf andere Gedanken kam. Irgendwas Spannendes erzählen, damit sie nicht unruhig wurde, weil die Mehrgeschosser zunehmend durch Einfamilienhäuser mit Vorgärten ersetzt wurden und zwischen diesen die naturbelassenen Freiflächen mit zurückgelegter Wegstrecke immer grösser wurden. Ihm fiel nur leider kein geeignetes Thema ein. Er bedauerte es, alles Wesentliche mit ihr seit ihrer Ankunft am Freitag schon besprochen zu haben. Warum hatte er sich nicht die guten Themen aufgehoben. «Woll’n wir noch mal über Yvonne reden?» «Wir reden doch schon, seit ich hier bin, von nichts anderem.» «Na gut, dann eben von Alex.» «Was willst Du denn wissen?» «Na, wie läuft’s denn so mit Euch?» «Gut!» «Und?» «Was und?» «Ich weiss nicht. Und eben.» «Ja nichts und.» Sehr viele Meter wurden mit solchen Wortwechseln nicht gewonnen und vor allem hatte Stephan den Eindruck, sie sei gereizt: «Wann sind wir denn endlich da?» «Frag doch nicht immer! Davon geht’s auch nicht schneller.» «Was heisst hier immer. Ich frag das erste Mal. Und überhaupt. Sind wir überhaupt noch in Pau?» «Warum fragst Du?» «Wegen den wilden Pferden neben uns auf der Wiese.» «Pau ist einer sehr tierliebe Stadt.» «Ist es nun noch weit?» «Nein!» «Und warum rennst du dann so? Wir haben noch anderthalb Stunden.» «Ich möchte eben schon etwas zeitiger da sein, um mir noch ein wenig die Konzerthalle anzuschauen.»

 

Im Feld E4 bestand sie schliesslich darauf, dass er ihr auf dem Stadtplan zeigte, wo sie sich gerade befanden. Das führte bei ihr nicht gerade zu einem Motivationsschub. «Wird schon Franziska. Es sind nur noch sechs Felder.» «Wir haben aber auch erst zwei geschafft.» «Mit Bus drei. Ausserdem wartet am Ziel auf uns Goran Bregovic.» «Ich bin mir nicht so sicher, ob der wirklich auf uns wartet.» «Trotzdem! Denk an was Schönes! Geniess den Spaziergang und die Umgebung.» «Stephan! Die Umgebung besteht auf der einen Seite aus Wiese und auf der anderen aus einer Strasse, deren Nutzer uns aus ihren Autos doof angucken.» «Also mich putscht das immer auf. Ich stelle mir dann vor, ich sei Muhammed Ali und bereite mich auf meinen wichtigsten Fight vor. Dabei geht mir die Melodie aus Rocky I und II durch den Kopf.» «Die kenn ich aber nicht.» Er versuchte sie seiner Schwester vorzupfeifen, ohne sichtbaren Erfolg, was ihre Motivation betraf.

 

Bei dem aktuellen Tempo der beiden war sich Stephan nicht sicher, ob sie das rechtzeitig schaffen würden. Es handelte sich um ein Konzert ausschliesslich mit Platzkarten. Da wurde mit Sicherheit pünktlich begonnen. Was ihn ein wenig ärgerlich stimmte war die Kompromisslosigleit, mit der sie ihm das Tempo diktierte. Er kam ihr schon entgegen, indem er langsamer lief, als er konnte. Sie war jedoch nicht bereit, im Gegenzug schneller zu laufen, als sie konnte. Die Sonne brannte für einen April ungewöhnlich erbarmungslos. Wasser hatten sie nicht dabei, stattdessen Stephan in seinem Rucksack zwei dicke Wörterbücher, die sich aber in dieser Situation als wenig hilfreich erwiesen. Der Motor seiner Schwester geriet immer mehr ins Stottern. «Du musst schneller laufen. » «Ich kann nicht.» «Sonst kommen wir zu spät.» «Ich kann trotzdem nicht schneller.» «Du bist doch im Gegensatz zu mir nur auf einem Fuss behindert. Belaste doch einfach den gesunden.» «Das ist es nicht. Es ist so heiss und ausserdem habe ich meine Regel.» Na zumindest hatte er mit dieser Vermutung richtig gelegen. Er konnte sie aber trotzdem dazu bringen, es mit der Gewichtsverlagerung zu versuchen, indem er darauf verwies, dass sich Langstreckenläufer dieses Tricks bedienten. Man müsse möglichst versuchen, alle Körperstellen am Erbringen einer Leistung zu beteiligen. Das sei insgesamt auch gesünder. Leider ging es zu allem Übel mit nahendem Ziel auch noch steil bergan.  Drei Prozent mindestens. Das war ein Drittel von Alp d’Huez, mit dem feinen Unterschied daß die Fahrer der Tour de France ein Fahrrad hatten und nicht laufen mussten. Stephan nahm seiner Schwester, als die Rampen unerbittlich wurden, sogar ihre Bauchtasche ab. Sie wurde nicht schneller: «Ich kann nicht mehr. Es ist heiss. Und ausserdem geht’s ständig nur bergan. Das Zenith ist auch noch nicht zu erkennen.» «Lauf in meinem Windschatten. Das schützt dich gegen Wind und Sonne.» «Ich glaube nicht, dass sich das lohnt. Die Sonne ist in unserem Rücken und bei unserem Tempo entsteht auch nicht mal Wind, vor dem man sich schützen müsste.»

 

Am Ende entschieden sie sich dann dazu, rückwärts zu laufen.Das hatte mehrere Vorteile. Zum einen kam man so leichter die Berge hoch. Das hatte Stephan vor vielen Jahren mal im Ferienlager gelernt, zwischenzeitlich aber vergessen. Vielleicht war man auch nur motivierter, weil man den Eindruck hatte, es ginge bergab. Zweitens hatten so beide einen Blick auf die Pyrenäen, was sie weniger frustrierte. Und Franziska, die vor ihm lief und sich inzwischen ein weisses T-Shirt als Sonnenschutz um den Kopf gewickelt hatte, vielleicht auch nur, um ihren Gesichtssonnenbrand zu verstecken, konnte sich bei Bedarf in seinen Schatten flüchten. Gewiss, sie beide gaben jetzt ein recht ungewöhnliches Bild ab. Beide rückwärts hintereinander laufend, vorne ein kleine Person mit rotem Gesicht, Sonnenbrille und weissem T-Shirt auf dem Kopf, ein bisschen wie ein saudischer Ölscheich, dahinter eine nur unwesentlich grössere Person mit einem von zwei riesigen Wörterbüchern (Larousse und Le Grand Robert) ausgebeulten Rucksack, Sonnenbrille und Bauchtasche. Hätte einer die Reporter von La République des Pyrénées informiert, es gäbe am nächsten Tag mit Sicherheit einen Text mit Photo in der Zeitung. Aber die Gesundheit und rechtzeitiges Ankommen hatten diesmal vor dem Image Vorrang. Das Ziel war das Ziel und nicht der Weg, es gab höhere Werte. Ferner würde sich Franziska in einer Woche aus Pau verabschieden, Stephan im Juli, da konnte man durchaus mal ein Risiko eingehen. Sie erreichten schliesslich doch noch rechtzeitig E0, obwohl es Stephan fast noch versaut hätte, weil er meinte, seiner Schwester zur Aufmunterung Witze erzählen zu müssen, die sich zwar ungefähr fünf Meter auszahlten, ab Meter sechs aber bei ihr zu Seitenstechen führten, welche sie erst zwanzig Meter vor dem Zenith wieder los wurde. Das Konzert fing aber glücklicherweise nicht schon um 17 Uhr an, wie von Stephan angenommen, sondern um 18 Uhr. Da konnten sie am Crêpe-Stand vor dem Eingang noch für 6 Euro eine 0.3er Flasche Wasser kaufen und hatten bis zum Beginn des Konzertes sogar noch zwanzig Minuten Zeit zur Regeneration. Im Zenith war es angenehm kühl: «Geht’s wieder, Franziska?» «Ja. Gott sei Dank haben wir Sitzplätze.» « Schön nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sowas mal befürworten würde.» «Wie weit sind wir denn ungefähr gelaufen.» «Ich schätze mal zwei bis drei Kilometer.» «Nur?» «Na ja, wir müssen das ja keinem sagen. Wichtiger ist doch, wie weit es einem vorkam. Wir behaupten einfach, das seien 20 Kilometer gewesen. Wer kann das in Deutschland schon überprüfen. Da kennt eh keiner Pau. Im Grunde war es schon wie ein grosses Roadmovie, im Stile Texas, Born to be Wild und Natural Born Killers, nur dass es noch nicht verfilmt worden ist. Fehlt eigentlich nur noch ein passender und spannender Name. Wie würdest du das denn nennen?» «Pau!»