Zurück zu Stephan

 

 

Sechsundzwanzigste Woche

Jetzt war es auch zu spät, noch einen gelungenen Aprilscherz unterzubringen. France Inter brachte die Null-Uhr Nachrichten. Während Stephan noch ein letztes Mal vorm Schlafengehen aus seinem Zimmer aufbrach, um sein Geschäft zu verrichten, traf er den Entschluss, das Osterwochenende als misslungen zu katalogisieren. Er brauchte dabei nicht mal ein ungutes Gefühl zu haben, denn das hatte er schon seit Freitag. Das einzige, was ihn zeitweilig abgelenkt hatte, war der innere Konflikt, ob er dieses ungute Gefühl nun hatte, weil er sich alleine fühlte oder weil er selber die Schuld daran trug, sich allein zu fühlen. Er hätte mit Florian nach Madrid und Lissabon fahren sollen. Bloss dann hätte er wieder die ganze Zeit nur auf Deutsch über Fussball sowie die undankbaren und unehrlichen Französinnen mit dem schlechten Jungengeschmack reden müssen und sich die Frage stellen, warum die auf einen nicht ansprangen. Die blieb schon seit September unbeantwortet. Zu Beginn des Jahres hatten sie beide sich vorgenommen, miteinander nur in Notfällen Deutsch zu reden. Aber auf Französisch hatten sie sich noch weniger zu sagen, weshalb der Begriff Notfall zunehmend weiter ausgelegt wurde. Oder er hätte sich bei anderen eingeklinkt, oder wäre alleine weggefahren. Es gab jedoch in jedem Fall wieder die Ausrede mit dem Geld, welches er für später sparen wollte. War er zu sich ehrlich, dann sparte er schon seit Beginn seines Erasmusaufenthaltes und es sah auch nicht danach aus, als sollte sich daran schnell was ändern. Hinzu kam die Trägheit, die es ihm oft unmöglich machte, sich zu entscheiden. Ferner wollte er nicht enttäuscht werden. Die Angst enttäuscht zu werden, nahm ihm schon seit Jahren jegliche Spontaneität und Unternehmungsfreude. Andere wanderten am Wochenende, machten einen Crêpes-Abend oder eine elsässische Party und waren damit zufrieden und glücklich. Er warnte in solchen Momenten in der Regel als einziger vor blinder Euphorie, was aber nicht honoriert wurde.

 

Da zog er es im konkreten Fall oft doch vor, gar nichts zu machen oder nur das, was er schon kannte. Sein Aktionsradius beschränkte sich somit aufs Kino Mélies, auf den Zeitschriftenladen im Centre Commercial, die CD-Abteilung von Fnac und die Bibliothek hinterm Wohnheim, Orte, an denen Bereitschaft zur Geselligkeit und intelligente Gespräche nicht gefragt waren. Das Bedrückende war vielleicht nicht so sehr die Lebensführung, sondern ihr Rückstand zu den eigenen Ansprüchen. Er hatte sich nämlich schon zugetraut, ein Vorbildlicher Erasmusstudent zu sein, mit allem, was das erforderte: nach einem Monat auf Französisch träumen, eine französische Freundin haben, ständig Partys machen, weltoffener und toleranter werden, permanent rumreisen und auch sonst viel unternehmen, um nach seiner Rückkehr allen zu erzählen, dass Frankreich viel besser als Deutschland sei und man darum später dort mal leben möchte. Er wollte dort später aber nicht leben, und auch sonst konnte er die Kriterien nicht erfüllen. Er musste sich nach sechseinhalb Monaten sogar noch zwingen, mal ein paar Sätze auf Französisch zu denken. Mit dem Träumen das klappte schon gar nicht, weil bei ihnen da nie geredet wurde. Er hatte sich noch nicht mal ins Musée des Beaux Arts getraut, weil ihm keine Ausrede eingefallen war, wieso er sich als Erasmusstudent, obgleich die Exponate langweilig und hässlich waren, trotzdem dafür zu interessieren hatte. Allenfalls, dass er regelmässig le monde las, liess sich auf der Habenseite verbuchen. Aber dazu musste niemand für ein Jahr ins Ausland. Stephan merkte hier in Frankreich wieder bitter, dass er eindeutig zu den Menschen zählte, deren Taten sich nicht im Ansatz bemühten, den eigenen Lebensmaximen gerecht zu werden.

 

Doch so selbstkritisch sein, war nicht gesund. Besser, das ungute Gefühl dem Umstand verdanken zu lassen, dass man sich allein fühlte. Sonst war das zwar auch nicht anders, aber da lenkten ihn wenigstens noch andere ab. Zu Ostern hielten es eigentlich nur die Marrokaner im Wohnheim aus und die Personen, die dafür verantwortlich waren, dass man immer bis zur vierten Etage hochsteigen musste, um eine Toilettenkabine zu finden, in die man treten konnte, ohne nicht schon beim Anblick des Abortes sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber möglicherweise waren das auch dieselben Personen, schliesslich verschlechterte sich über Ostern die Lage noch mal dramatisch, und dann gab’s ja da nur noch Julien und seine Schwester Hermine, die das aber nicht mehrere Stockwerke allein zu verantworten haben konnten.

 

Julien war seine letzte Hoffnung gewesen, Ostern zumindest temporär ein wenig zu retten, indem er es Stephan ersparte, allein auf das Ragga-Konzert in La Scène, das Paloiser Pendant vom ehemaligen Berliner Franzclub, gehen zu müssen. Und vor allem musste er nicht dort hingehen, da Julien ein Auto besass. Julien wollte aber nur, wenn seine Schwester dabei war und Stephan ferner mit ihnen Abendbrot ass. Die beiden hingen nämlich ununterbrochen zusammen, da der andere sauer war, machte der eine was ohne ihn und umgekehrt. Auch das beste Duo hat sich jedoch irgendwann nicht mehr so viel zu erzählen, weshalb sie zu den Mahlzeiten immer noch eine dritte Person einluden, die dafür zu sorgen hatte, dass nicht so viel geschwiegen wurde. Stephan hatte folglich Mühe, sich zum gemeinsamen Essen zu motivieren, was man seiner Leistung auch anmerkte. Zwar rettete sie das mitgebrachte Kofferradio noch eine Zeitlang. Zu Beginn tat Stephan einfach so, als hätte er Mühe die richtige Frequenz zu finden. Er hielt das Radio absichtlich so, dass es durchgängig rauschte. Das beschäftigte kurzzeitig die Gemüter. Als dann Europe 2 eingestellt war, wurden die jeweiligen Interpreten kommentiert. Das verhinderte gleichwohl nicht, dass es beim zweiten Mal Mylene Farmer ruhig wurde und während der folgenden Nachrichten Hermine es nicht unterlassen konnte, ihren Unmut zu bekunden, weil die im Radio mehr sprachen als wir. Stephan konnte bei sich keine Schuldgefühle ausmachen, schliesslich war das mit dem Essen ihre Idee, er wollte nur ins Konzert. Er konnte allerdings nicht nur nicht das Schweigen verhindern, sondern ebenfalls nicht die obligatorischen Geschwisterstreitereien. Julien bemerkte, er hätte gerne noch andere dabei, weil ihn kleine Gruppen frustrierten, worauf Hermine beleidigt erwiderte, wenn sie beide ihm nicht reichten, dann habe sie keine Lust. Stephan hatte nichts dagegen, ohne Hermine zum Konzert zu gehen, allerdings würde Julien dann womöglich erst recht nicht mitkommen. Julien rechtfertigte sich, in grösseren Gruppen könne man besser reden, was für Stephan auf einem Konzert nicht unbedingt das Ziel war. Dann war aber Julien sauer, weil Hermine sich so zickig hatte und meinte, er wolle auch nicht mehr, bringe aber Stephan mit dem Auto hin. Hermine erklärte sich dann aber bereit, aufs Konzert mitzugehen, damit er nicht alleine sei.

 

Stephan empfand die Entwicklung als äusserst bedenklich. Die Aussicht, mit ihr alleine zu sein, bereitete ihm mehr Kopfzerbrechen, als früher die Vorstellung, auf der Klassenfahrt nicht mehr bei den Mitschülern unterzukommen und darum im selben Zimmer wie die Lehrer schlafen zu müssen. Die fand ihn nämlich gut, was aus mehreren Gründen keine Ehre war. Erstens wegen ihrem Aussehen und zweitens, weil sie noch nie einen Freund gehabt hatte und sich aus Verzweiflung in jeden Jungen verliebte, der den Fehler beging, sich länger als fünf Minuten mit ihr zu unterhalten. Stephan war bei ihr immer hin- und hergerissen zwischen Ablehnung und Mitleid, Ablehnung, da sie Kunst studierte, sich permanent selbst lobte, sowie als begehrt und interessant beschrieb (Hach, in der Liebe habe ich einfach schon zu viele bittere Erfahrungen gemacht./ Mein Professor meinte, meine Arbeiten sind im Vergleich zu den anderen Studenten gut. Aber gleichzeitig hat er mir gesagt, ich könnte noch viel besser sein./ Ich gehe nicht so gerne in Kneipen, weil ich es nicht mag, wenn die Jungen mich so anstarren und immer nur das eine wollen), ohne dem Autoportrait gerecht zu werden. Mitleid, da sie wohl hauptsächlich wegen ihrer mangelnden Beliebtheit und ihrem Äusseren Kunst studierte und sich als begehrenswert darstellte, in der Hoffnung, wenn sie darauf nur oft genug hinwies, würden das die Mitmenschen auch glauben. Stephan machte sich ja gegenüber anderen auch oft Komplimente, aber nicht, damit die das glaubten, sondern damit er sich das irgendwann abnahm. Trotzdem würde er deshalb nicht bis zur Anorexie gehen. Ob aus Mitleid oder Ablehnung, er hatte jedenfalls bis heute nicht, obwohl versprochen, ihr Angebot in Anspruch genommen, sich ihre Fotoapparat zu leihen. Er hätte dazu nicht nur zu ihr gehen müssen, sondern bestimmt irgendwann eine soziale Gegenleistung erbringen.

 

Ein möglicher Ausweg hätte darin bestanden, sich an dem Streit zu beteiligen. Er sei verletzt und wolle auch nicht mehr zum Konzert, wenn er Julien nicht reiche, hätte er trotzig von sich geben können. Aber er wollte zum Konzert, im Auto, und meinte daher nur zu Hermine, es reiche ihm völlig, hingebracht zu werden. Sie bräuchte sich nicht aufopfern, beim Konzert könne man eh nicht reden. Sie empfand das als Ausdruck für die Geringschätzung ihrer Person, was es auch war, nur hatte sie es so nicht verstehen sollen. Er brauchte nicht mal ehrlich sein, wozu ihm der Mut fehlte, und sagen: «Ich will aber nicht, dass du mitkommst.» Sie war dermassen sensibilisert, dass sie ihn auch so verstand. Die hatte sich noch schlimmer als er. Das Ausgehvorhaben blieb davon nicht unberührt. Da Juliens Kapazitäten sich im Zweifelsfall doch dafür entschieden, seine Schwester moralisch wieder aufzurichten, standen sie für Personentransporte nicht mehr zur Verfügung. Stephan hätte mit auf Hermine einreden können, dann hätte sie sich vielleicht schneller beruhigt. Aber das sah er gar nicht ein. Zicken durfte nicht auch noch mit übertriebener Aufmerksamkeit belohnt werden. Er hätte laufen und zu spät kommen können. Die fingen sowieso meistens nicht pünktlich an. Aber er hatte keine Lust, mehrere Kilometer hin und zurück zustelzen, nur damit ihn auf dem Konzert die Mädchen doch wieder ignorierten. Das Ragga-Publikum war nämlich nicht sein Klientel, das hatte sich schon früher immer bei der Reggae-Night in der Kultubrauerei gezeigt. Wenn er denn eins hatte, dann noch am ehesten auf Brit-Pop-Veranstaltungen, aber die gab’s in Pau leider nicht.

 

Statt mit La Scène hatte er somit doch wie so oft wieder mit seinem Zimmer vorlieb nehmen müssen, oder besser seiner Zelle. Im Prinzip war das Wohnheim ein Gefängnis, eins, das keine Gitter und gesicherte Eingangstore brauchte. Hatte eh keiner Lust auszubrechen, da man draussen in Pau auch nichts mit sich anzufangen wusste. Der Ärger darüber, dass er jetzt, wo Hermine sauer war, entgegen vorherigen Abmachungen seinen Teller doch selber abwaschen musste, hatte ihn nur kurzzeitig von dem Gefühl abgelenkt, wie wenig hier österliche  Stimmung aufkam. Dieses Gefühl lag wie Mehltau auf ihm, selbst wenn er keine Definition für Mehltau parat hatte. Geschenke suchen brachte auch nichts, da er die Süssigkeiten aus dem Paket von seinen Eltern zwar zunächst im Zimmer versteckt hatte, seine Naschlust dann aber nur bis Gründonnerstag hatte warten wollen. Was konnte er dafür. Das lag in den Genen. Nächstes Jahr würde er Ostern jedenfalls nicht mehr in Pau verbringen und die Ödnis mit lesen bekämpfen und damit, den Weezer-Text Island in the Sun umzuschreiben, welcher qualitativ der Melodie hinterherhinkte. Und den ersten April würde er auch nicht verschlafen. Was hatte man denn davon, wenn einem das mit dem Aprilscherz erst um 23.30 Uhr einfiel und schon alle, die man kannte, schliefen? Da verlor der ganze Tag seine Legitimation.