Zurück zu Stephan

 

 

Siebenundzwanzigste Woche

In Frankreich ist die Revolution die einzige Alternative, will man nicht Chirac oder Jospin wählen. Ich habe gegen eine Revolution nichts einzuwenden, zumal die letzte ja auch schon wieder über 12 Jahre her ist und die hat nicht mal in Frankreich stattgefunden. Ein bisschen Abwechslung könnte meinem Erasmusaufenthalt nicht schaden. Leider darf ich nicht mit abstimmen, obgleich ich bestimmt mindestens genauso lange wie die Franzosen über die Frage nachdenke, ob es mir mehr Freude bereiten würde, wenn Chirac nicht noch eine weitere Legislaturperiode im Amt wäre und man ihm – von seiner Immunität befreit - endlich wegen seiner ganzen Korruptionsaffären den Prozess machen könnte, oder ob es wichtiger ist, Jospin dafür zu bestrafen, dass er sich zunehmend an Tony Blair orientiert. Dabei weiss man von Letzterem seit längerem, dass es sich bei ihm eigentlich um Margeret Thatcher handelt, die sich, weil sie bei den Torys nicht mehr gemocht wurde, einer Schönheitsoperation und Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, um in einer Labourregierung mit ihrer Politik weiterzumachen, zu der der schlaffe Tom Major nicht in der Lage war. Das haben selbst Oasis schon eigesehen.

 

Was ist nun schlimmer: ein konservativer Populist, dem halb Afrika seine Diktatoren zu verdanken hat und der nur weitermacht, damit er nicht ins Gefängnis muss oder ein ehemaliger Trotzkist, dem wie seinem Rivalen nichts anderes Einfällt als die innere Sicherheit. Ich neige ja immer noch dazu, der zweiten Variante mehr Ablehnung entgegen zubringen. Von einem konservativen Politiker wird gemeinhin schliesslich nichts anderes erwartet. Allerdings verabschieden sich auch immer mehr Wähler davon, einem als links bezeichneten Politiker linke Politik zuzutrauen, so traurig wie es ist. Heute ist eh alles austauschbar, was sich auch daran zeigt, dass Chirac in seiner Jugend mal  L’Humanité verkauft hat, das Zentralorgan der Parti Communiste. Die Franzosen nehmen Chirac gar nicht so sehr seine Affären übel, sondern eher, dass er dazu nicht steht und soviel lügt, weshalb er bei jedem Besuch in der Banlieue von einer Gruppe Jugendlicher mit super-menteur, super-menteur-Sprechchören empfangen wird. Sollte er trotzdem wiedergewählt werden, dann weil er die meisten Hände geschüttelt hat, die grosse Stärke Chiracs. Einmal von Jaques die Hand geschüttelt zu bekommen, so erliegen insbesondere Frauen seinem Charme, sei eben doch was anderes als die kühle oberlehrerhafte Art, mit der sich Lionel in den Massen zu suhlen pflegt. Und dann trat eben Jospin ins Fettnäppchen, Chirac als alt und verbraucht zu bezeichnen. Das dementieren selbst Chiracs politische Freunden nicht, aber das darf man nach Meinung der Franzosen trotzdem nur heimlich sagen. Ich sehe das anders. Aber gut, die Franzosen halten es nicht so genau mit der Sekundärtugend Ehrlichkeit, deren Nichtvorhandensein ich auszubaden habe, weil ich es Französinnen immer noch jedes Mal abnehme, wenn sie mir ihr Ehrenwort geben, zu unserer Verabredung auch wirklich zu kommen, weshalb ich jedes Mal wieder enttäuscht und traurig bin. Das sind die raren Momente in meinem Leben, in denen ich Helmut Kohls Persönlichkeit zu schätzen weiss, was ich aber niemandem weiterverrate.

 

Dafür darf ruhig jeder wissen, dass ich wahrscheinlich für Oliver Besancenot stimmen würde, den Kandidaten der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR).  Das ist besser, als aus Protest gegen «die da oben!» in die rechtsextreme Front National  von Jean-Marie einzutreten. Einen kurzen Moment hatte ich damit geliebäugelt. Aber, um genommen zu werden, hätte ich bestimmt mein Aeroflot-T-Shirt und meine Schlaghose abgeben müssen. Ausserdem ist es schon den Berliner Studenten nicht gelungen, die FDP zu übernehmen. Wie soll ich es da alleine schaffen. Meine Grosseltern fragen sich wegen meiner Sympathie für die trotzkistische LCR aufs Neue, ob das noch ihr Enkel ist. Meine Eltern unterstützen mich, solange ich nur im Ausland Unruhe stifte und bis zur Bundestagswahl  wieder auf Schröder einschwenke. Der sei im Vergleich mit Stoiber das kleinere Übel, worüber ich mir aber nicht sicher bin. Von Stoiber kann man wenigstens nur positiv überrascht werden. Und selbst wenn Schröder das kleinere Übel wäre, spräche das noch lange nicht für ihn. Darin drückt sich eben der heutige Generationskonflikt aus: dass man mit über dreissig meint, eh nichts gross verändern zu können und man darum taktisch wählt, während man mit unter dreissig das auch schon eingesehen hat, da man sich aber von einer taktischen Wahl ebenfalls nichts zu versprechen hat, doch lieber bei den Kommunisten bleibt, sofern das welche sind, was von der Parti Communiste Français (PCF) nicht unbedingt behauptet werden darf, die jetzt in der Wahlkampagne die Politik von links kritisieren muss, die sie, seit 1997 mit an der Regierung, gebilligt hat. Meine Genossen von der kommunistischen Studentengewerkschaft Solidarité Etudiante, zu der ich gegangen bin, um vielleicht in Frankreich doch noch Freunde zu finden und nicht das ganze Jahr faul rumgesessen zu haben, erzählen mir jedenfalls immer, was ihr Hauptanliegen bei der Wahl ist: «Niquer Robert Hue!», was im Deutschen «Robert Hue ficken!» heisst und keinen Zweifel daran lässt, dass sie mit dem Vorsitzenden der PCF sehr unzufrieden sind. Auch ein Grossteil seiner Parteimitglieder wird für Arlette Laguiller von der trotzkistischen Lutte Ouvrière stimmen, der zuzutrauen ist, der dritte Mann im ersten Wahlgang zu werden, auf jeden Fall aber die erste Frau. Als ich vor einigen Wochen auf einer Wahlkampfveranstaltung der LCR mit Olivier Besancenot war, musste ich feststellen, dass zwar danach alle vollauf begeistert waren, obwohl er meiner Meinung nach nur das gesagt hatte, was auch mir eingefallen wäre, gerade aber diejenigen, die ihn am stärksten lobten, vorhatten, Arlette zu wählen. Im Grunde sind alle Mitglieder der LCR für Lutte Ouvrière, wurden aus der aber ausgeschlossen, weil sie sich mit deren stalinistischen Strukturen nicht angefreundet haben oder jemanden geheiratet haben, der nicht aus Partei war. Wer in Lutte Ouvrière ist, darf nämlich eigentlich gar nicht heiraten, weil ihn das von der Revolution ablenkt. Kann er es sich gar nicht verdrücken, dann muss er wenigstens eine Genossin oder einen Genossen nehmen. Wer in Pau auf zwei bis drei Demos mitmarschiert ist, hat das durchschaut.

 

Ich würde es deshalb zum Beispiel in Lutte Ouvrière schwer haben, da ich mich immer wieder dabei ertappe, wie ich mit dem Slogan Liebe statt Revolution sympathisiere. Dass mir der Postträger Olivier Besancenot da lieber ist als die ehemalige Crédit Lyonnais-Angestellte Arlette Laguiller, verwundert nicht mal mich. Der ist zwar ebenfalls Single, dafür aber nicht schon 62, sondern erst 27. Ausserdem darf man, wenn man der Lutte Ouvrière angehört, nicht mit den ganzen Konterrevolutionären gegen die  Auswirkungen der Globalisierung durch die Strassen Barcelonas ziehen, da Trotzki in seinen Trakten den EU-Gipfel damals nicht erwähnt hat und die Revolution gefälligst solange auf die Arbeiterklasse in den Betrieben warten soll, bis es die nicht mehr gibt.

 

Das wissen natürlich die meisten Franzosen nicht, weshalb Arlette mit 10-13 % der Stimmen rechnet, Besancenot nur mit 0-3 %. Hier bewahrheitet sich mal wieder die alte französische Besonderheit, dass man nur oft genug zu den Präsidentschaftswahlen antreten muss, um irgendwann auch zu gewinnen. Das hat schon bei Chirac so geklappt. Nimmt man als Grundlage, dass Laguiller seit 1974 ihre Stimmen kontinuierlich erhöht hat, dann dürfte sie spätestens ab 2022 mit heute 73jährigen Jean-Marie Le Pen die Wahlen unter sich aus machen. Also kommunistische oder nationale Revolution. Die Deutschen wissen vorher, dass sie Stoiber endlich für immer los sind, wenn er es diesmal nicht schafft. Aber vielleicht gestattet uns in zwanzig Jahren die europäische Integration wenigstens, über den französischen Präsidenten mit abstimmen zu dürfen. Eine Idee, die sicherlich in Deutschland schon heute zahlreiche Anhänger findet, schliesslich haben wir mehr Wahlberechtigte. Und für einige böte das die Gelegenheit, mit Chirac alte Rechnungen zu begleichen, weil der damals bei der Besetzung der EZB so gemauert hat, um den französischen Kandidaten gegen Wim Duisenberg durchzuboxen. Bis es soweit ist, muss wohl damit gelebt werden, dass die Franzosen im zweiten Durchgang doch wieder denselben gewinnen lassen. Viele setzten guten Gewissens im ersten Wahlgang ihr Kreuz auch deshalb hinter die Revolution, weil die am Ende eh nicht stattfindet. Ich muss mich leider damit begnügen, in meinem Erasmuskurs ein Referat über die Präsidentschaftswahlen zu halten. Ich kann sogar schon aus dem Stehgreif alle sechzehn Kandidaten für die erste Tour aufzählen, was mir bei den anderen trotzdem nicht den lang verdienten Respekt einbringen wird, da ich mir von den fünf Studenten mit Sicherheit als Einziger zuhören werde.