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Neunundzwanzigste Woche
Eigentlich war ich
letzte Woche in Barcelona. Genug Gründe also, mal zur Abwechslung einen Text
zu schreiben, der nicht von kindlich überbordender Lebensfreude ins Unglaubwürdige
hinabgezogen wird, eine Marotte von mir, von der ich einfach nicht lassen
kann. Und nun werfen die Präsidentschaftswahlen die ganzen ausgeheckten Vorsätze
über den Haufen, weil die Franzosen statt Jospin Le Pen als Gegner von Chirac
durchgeboxt haben. Fascho gegen Bandit, ein Duell, das Emotionen verspricht,
weil sich da zwei gefunden haben, die sich noch weniger mögen als Gerhard
Schröder und Oskar Lafontaine. Es bestätigen sich dabei wieder das Theorem,
dass Politik was Temporäres ist und man Interesse dafür am besten mit der
richtigen Vogelscheuche weckt. Für Chirac als Vogelscheuche waren viele hier
schon zu abgestumpft, da musste halt noch ein bisschen raufgelegt werden.
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Den Erasmusstudenten wie mir beschert dieser Umstand
zwei Wochen voll kultureller Veranstaltungen, Aktionen und Demonstrationen
gegen den Rassismus. Erstmals habe ich in Pau einen vollen Stundenplan. Und für
Demos bin ich immer zu haben, schliesslich fiel mir schon vor Jahren auf, dass
diese die nötige Infrastruktur bieten, um Netzwerke mit hübschen
Mitdemonstrantinnen zu spinnen. Man kann Teil einer Jugendbewegung sein, ohne
sich gross intellektuell zu verausgaben. Die einzige Denkleistung besteht
darin, abzuwägen und zu entscheiden, ob es bei der gutaussehenden
Spanischstudentin, die neben einem läuft, besser ankommt, wenn man sich
lautstark an den Parolen beteiligt oder ob man lieber schweigend defilieren
sollte. Daran bin ich ja permanent gescheitert, weil ich beim Abwägen so sehr
in die Tiefe gegangen bin, dass ich es zu einer Entscheidung nicht mehr
gebracht habe. Konzerte gegen Rechts sind auch gut, wer hat schon was gegen
Musik, vor allem wenn die oft umsonst ist? Streiks fand ich schon zu meiner
Gymnasialzeit spitze. Unterricht war nämlich doof. Viele andere sehen das mit
Sicherheit genauso, weshalb gewiss viele Paloiser Studenten gerne mitmachen,
um nach der Wahl Chiracs zum Präsidenten wieder zur Party überzugehen. Man
darf sich halt nur nicht so sehr in die erste Reihe drängen, damit einem Le
Pen, sollte er doch gewinnen, die Behauptung abnimmt, man habe gar nichts
gegen ihn und auch nie was gegen ihn gehabt.
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Ich bin jedenfalls froh, dass ich nicht in der
Situation bin, für Chirac als Bollwerk der Demokratie zu stimmen, was dieser
allenfalls im Vergleich mit seinem Widersacher ist. Zugleich hoffe ich, dass
sich bis September die Stimmungslage in Deutschland noch ändert, damit sich wählen
überhaupt lohnt. Ich habe aber kein Verständnis für die Stimmen hier, die
jetzt rufen, ach hätten wir nur vorher gewusst, dann hätten wir uns nicht
enthalten oder dann hätten wir für Jospin votiert. Das Problem ist nicht das
Ergebnis, das Problem sind die Ursachen. Keiner hat die Franzosen gezwungen
Chirac und Le Pen die meisten Stimmen zu geben. Unzufriedenheit ist kein
Grund, einen Faschisten zu wählen. Das Problem in Frankreich ist, dass zu
viele Leute das Fernsehen nicht in Frage stellen, welches den Eindruck
vermittelt, das Land befinde sich in einem Bürgerkrieg, indem die ersten
dreissig Minuten jeder Nachrichtensendung nur darüber berichten, welcher
Jugendliche wieder welche Rentnerin vergewaltigt hat, mit Bildunterschrift: «Ca
peut vous arriver chaque jour!!!», und dem anschliessenden auffordernden
Blick des Nachrichtensprechers: «Votez droite!!!» Das Problem sind
die Leute, die das Märchen akzeptieren, es gäbe für jede Misere eine
einfache Lösung, die, nachdem sie dreimal in der Kabine ein Kreuz gesetzt,
nicht mehr wählen, weil sich ihr Leben nicht zum besseren revolutioniert hat,
die immer «die da oben» schreien, schliesslich ist es besser die Macht an
andere zu delegieren, weil man dann selbst keine Schuld hat. Leute, die
meinen, wer gewählt hat, sei seiner gesellschaftlichen Verantwortung schon
gerecht geworden. Natürlich darf man Chirac kritisieren. Ich bin sogar dafür,
denn er zählt nicht mal zu den Anwärtern auf einen Platz meiner zehn
Lieblingspolitiker, die ich mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Trotzdem
haben die Franzosen die Politiker, die sie verdienen.
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Vielleicht wäre ein Sieg von Le Pen sogar besser,
weil dann möglicherweise ein paar mehr Menschen begreifen, dass Engagement
nicht nur den Zweck hat, zwischen zwei Wahlgängen den Schaden zu begrenzen,
sondern man sich kontinuierlich einzusetzen hat, um ein wenig zu erreichen und
man vor den Wahlen geltend machen muss, dass man den Politikern das Rezept
nicht abnimmt, zehn Polizisten hier, zehn Kameras da, drei
Demonstrationsverbote dort und die Todesstrafe würden reichen, damit es den
Menschen besser geht. Und weniger Ausländer natürlich. Aber wie ich mich
kenne, ist am 5. Mai alles wieder gut und Frankreich noch mal um das
Schlimmste herumgekommen. Und bis zur nächsten Wahl ist Le Pen, heute schon
74, eh tot. Den Rassismus wird man los, in dem man im zweiten Wahlgang gegen
ihn stimmt, ist der Grundtenor, den Politiker und Medien landauf landab
predigen. So einfach geht das. Gott sei dank. Auch für mich, denn mich
schlaucht mein neu aufgekommendes Engagement doch langsam. Ich bin immerhin
auch schon fast 24. Da erleichtert mich der Gedanke, mir bald eine Pause zu gönnen.
Schade nur um die Debatten: «Wer ist rassistischer: Deutsche oder Franzosen?»
Die waren hier in letzter Zeit zu meiner Genugtuung das erste Mal
ausgeglichen.
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Und nächste Woche
gibt es zur Abwechslung mal was Pessimistisches: All beauty must die!
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