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Dreißigste Woche

Der erste Mai ist auch in Frankreich ein Tag der Arbeit, der Demonstrationen vorbehalten ist. Diesmal durfte man zusätzlich noch gegen die Front National und Le Pen sein, weshalb ich am Mittwoch viele angetroffen habe, die ich sonst nie sehe. Mich haben wohl am Mittwoch auch viele angetroffen, die mich sonst nie sehen, was aber nicht auf mein Konto geht, schliesslich bin ich so gut wie immer da. Mir waren die Menschenmassen gar nicht so recht. So würde halb Pau meine Herpessalbe sehen, die ich am Vorabend der Apothekerin mühsam abgerungen hatte. Den Herpes habe ich mir kurz nach der ersten Wahlrunde zugelegt, was mal wieder beweist wie seismographisch sensibel mein Körper auf politische Ereignisse reagiert. Von alleine ist er aber nicht weggegangen und so stand ich am Dienstag in der Apotheke, fragte zunächst nach Pflaster, um die Zeit zu überbrücken, bis das eine Mädchen weg war und zeigte dann auf meinen rechten Mundwinkel. «C’est une inflammation, que j’ai à cause des résultats du premier tour. Ca ne guérit pas et il y a du pus.» Inflammation (Entzündung) und pus (Eiter) hatte ich mir vorher noch in meinem Wörterbuch nachgeschlagen und in mein Vokabelheft zu den anderen Begriffen unter dem Stichwort Krankheit, geschrieben. Herpes konnte ich nicht nachschlagen, weil mir ab h die Seiten fehlen und Griebe stand nicht drin. Aber ich weiss ja nicht mal im Deutschen, wo zwischen den beiden der Unterschied besteht. Die Apothekerin meinte zu mir nur routiniert: «Ah, un bouton de fièvre.» «Non, je n’ai pas de fièvre.» «Oui, mais c’est le nom.» Wieder was gelernt. Das war das Gute an Auslandsaufenthalten, dass sich sogar aus Aids und Krebs noch Nutzen ziehen liess und das eigene Elend wenigstens einen Zweck hatte. In der Email meiner Schwester, die in der Zwischenzeit für mich in Deutschland recherchiert hatte, stand jedenfalls, dass Herpes herpès heisst. Die habe ich aber erst am Donnerstag gelesen und ferner klingt bouton de fièvre nach einem längeren Frankreichaufenthalt. Auf herpès kommt ja jeder Deutsche, wenn er nur ein bisschen nachdenkt.

 

Ich hatte aber vergessen, eine hautfarbene Salbe zu verlangen. So sieht man mir seit Mittwoch nicht mehr meine Entzündung an, sondern nur den blauen Fleck. Ich kann jetzt also zwischen der Begründung, ich sei geschminkt bzw. ich habe einen bouton de fièvre, wählen, beides nicht wirklich dienliche Optionen, zumal sich wohl kaum ein Junge im rechten Mundwinkel mit einer blauen Salbe schminkt. Aber diesen Streich war ich ja schon gewöhnt: nach einem Medikament fragen, stattdessen aber ein teures Kosmetikum angedreht bekommen, mit dem pickelähnliche Gebilde nicht bekämpft sondern nur abgedeckt wurden, bis sie von alleine verstanden. Meine Genossen von Solidarité Etudiante meinten jedenfalls, die Farbe passe gut zu meiner blauen Pumasportjacke, was mich dann wieder ein wenig aufmunterte, aber nur solange, bis ich feststellte, dass das eigentlich kein Grund war, aufgemuntert zu sein. Trotzdem trug ich auf der Demo über weite Strecken mit an unserem Transparent, obgleich ich vorher nicht mal raufgeguckt hatte, was da eigentlich drauf stand und ich mich auch sonst nicht gerne in der Öffentlichkeit zu plakativen politischen Stellungnahmen überreden lasse, weil ich mich dann vielleicht später dafür rechtfertigen muss. Myrène hatte sich aber am Vorabend beim Pogen gegen Rechts das Knie verdreht und hatte darum nach zweihundert Metern nicht mehr mit Robert und Julien mitgehalten und das Handtuch an mich weitergerreicht. Einer verletzten Frau darf man nicht einfach ein Transparent ausschlagen. Es regnete. Trotzdem waren wir 16000, ein Paloiser Rekord, auch durch mich, und die Salbe hielt. Ich versuchte immer so weit wie möglich rechts an der Häuserwand entlang zu laufen, damit die blaue Stelle keiner sah.

 

Neben der Erweiterung meines französischen Wortschatzes bot mir mein Herpes immerhin einen gelungenen Vorsatz, die Parolen nicht mitgrölen zu müssen. Ich hatte nämlich schon beim Baguette-Essen gemerkt, dass, wenn ich den Mund zu weit aufmachte, die Wunde wieder aufriss und das liess sich beim Parolieren nicht vermeiden, erst recht, wenn man wie ich um die richtige französische Aussprache bemüht ist. Parolen hatten es bei mir wegen meines nur ironischen Selbstbewusstseins nämlich sehr schwer, infolgedessen auch Menschen, die sich diesen anschliessen. Mädchen die auf Demos in alle Gesänge einstimmen, haben darum zwar meine politische Unterstützung, erschweren sich es aber damit, meine Freundin werden zu können, falls sie das wollen. Aber auch, wenn sie das nicht wollen, erschweren sie sich das. Am Ende der Demo bedankte sich Jean Ortiz von der Unidozentengewerkschaft für unsere Mobilisierungskampagne in den letzten anderthalb Wochen. Dabei waren kaum Studenten zu sehen und wir hatten in den letzen Vollversammlungen den Hörsaal auch nur damit gefüllt, weil wir vorher in die umliegenden Gymnasien gegangen waren und dort das Gerücht verbreitet hatten, bei uns gäbe es einen coolen Streik. Der einzige, der von den Aktionen an der Uni wirklich mittelfristig was hat, ist mein Bekanntheitsgrad. Dennoch erfüllte uns die gereichte Hand von Jean Ortiz schon mit Freude, schliesslich war das in Pau die einzige Figur, die noch an die Revolution glaubte, selbst wenn er in seiner Ansprache dazu aufrief, in der zweiten Wahlrunde für Chirac zu stimmen.

 

Florian zeigte sich mir am Ende auch noch, mit seinem Vater, den er extra zur ersten Maidemo nach Pau eingeladen hatte, damit ich ihm nicht weiter politische Tatenlosigkeit vorwarf, und dann kam auch noch Guillaume, für den ich spätestens in dem Moment freundschaftliche Gefühle entwickelte, als ich erfuhr, dass er manisch-depressiv ist. Menschen mit psychischen Problemen haben bei mir immer zunächst mal ein Stein im Brett, auch weil ich hoffe, von ihnen noch was lernen zu können. Zu zweit tigerten wir zur Markthalle, in der für 13 Uhr ein Antirassissmus-Konzert mit zwei Acts angesagt war. Draussen verkauften Mitglieder der Kommunistischen Partei Maiglöckchen an kleine Kinder, seit diesem Jahr nicht mehr 16 Franc sondern 16 Euro das Stück, da die Partei die wegen dem schlechtem Ergebnis ausbleibende Wahlkampferstattung wieder reinholen musste. Die Kinder machten sich sofort daran, von ihnen zu kosten, obwohl die hochgiftig sein sollen. Die Eltern kamen nicht dazu, ihr Leben zu retten, weil sie unterdessen drinnen nach Bratwürsten anstanden. Für die Musiker blieb da nicht mehr viel Publikum, was aber auch nicht weiter schlimm war, denn die erste Band hatte nicht viel zu bieten ausser Coverversionen von Oasis, Green Day und Blur, sowie den doofen Namen Small Heaven. Guillaume und ich taten aber trotzdem so, als würden sie uns zusagen, indem wir gespielt tanzten und in ihnen damit die Hoffnung schürten, wir würden ihnen ein Band T-Shirt abkaufen, wenn schon der Auftritt umsont war. Wir mussten sogar ein bisschen schwitzen, die Salbe hielt. Statt T-Shirt gingen wir aber Döner essen, der in Pau allerdings 3.60 Euro kostet, dafür aber auch halb so gross ist wie sein Berliner Äquivalent.

 

Für den Döner brauchte ich aber weitaus länger als Guillaume. Ich konnte ihn nämlich nur links essen, wollte ich ihn nicht mit der Salbe vermischen, was mir aber trotzdem manchmal gelang. Die Salbe soll aber bei Verzehr nicht ganz ungefährlich sein. Gestorben bin ich bis Freitag noch nicht, mache mir aber dennoch so meine Gedanken. Ich bin ja sehr hypochondrisch veranlagt. Die Salbe heisst Parkipan Ointment. Sollte also ein Pharmaziestudent oder Apotheker diese Zeilen lesen, so würde es mich freuen, wenn mir unter stephan.zeisig@web.de meine Lebenserwartung mitteilen könnte. Die andere Band bestand aus einem afrikanischen Trommler, lockte aber auch niemanden an. Aber zum Trommeln braucht man eh kein Publikum. Das hatte ich von den Leuten im Mauerpark gelernt.

 

Im Quartier Hédas, dem Szeneviertel Paus, hatte es eine andere Gruppe leichter, auch deshalb, weil der Raum so klein war. Ausserdem hiess die nicht Small Heaven. Wir tanzten ein bißchen und nachdem ich im Toilettenspiegel überprüft hatte, dass meine Salbe noch hielt, liess ich mir von einem okzitanischen Nationalisten, der wegen meines Solidarnocs-T-Shirts annahm, ich sei Pole, beweisen, dass die Eta-Terroristen zu Unrecht im Gefängnis sassen. Kurze Zeit später gab es in Madrid einen Anschlag, zu dem ich ihn aber nicht mehr ausfragen konnte, da Guillaume und ich unterdessen in meiner Gefängniszelle im Wohnheim dabei waren wissenschaftlich zu beweisen, dass es einem selbst schlechter ging als dem anderen. Bei den Selbstmordversuchen konnte ich nicht mehr mithalten und meine Eltern hatten mich auch nicht mit elf aufgegeben. Ich behielt mir aber das letzte Wort vor, indem ich meinte, entscheidend für die Schwere des eigenen Leids seien nicht die objektiven Gründe, sondern das Vermögen, sich sein Leben als hoffnungslos auszulegen, was mich unweigerlich wieder ins Spiel brachte.

 

Im Fernsehraum vom Wohnheim wurde unsere Stimmung auch nicht besser, zum einen, weil ich mit ansehen musste, dass die Revolutionäre 1. Mai-Demo auch ohne mich gelang, was aber wenigstens den Vorwurf meines Vaters den Wind aus den Segeln nahm, ich sei dafür verantwortlich zu machen, dass 1998 mehrere Bauarbeiterwagen in der Schwedter Str. umgekippt und in Brand gesteckt wurden. Darüber hinaus zog Real Madrid ins Finale der Champions-League ein, ein faschistischer Verein, wie ich unlängst schon rauskriegte. Da blieb uns eigentlich nur die Wahl, uns in einer Kneipe vollzusaufen, wobei ich noch die Frage beantworten musste, ob ich mittrinken sollte oder ob ich mit fast 24 nicht doch schon zu alt war, um mit dem Alkohol anzufangen. Die Antwort ergab sich von selbst, da im St.Patrick zwar nur wenige Personen waren, dafür aber solche, denen Guillaume nicht begegnen wollte, weil er die kannte. In den anderen Kneipen waren auch nicht viele Leute, die kannte ich dafür aber.  Die Antwort sah eher nach Umkehren, Wohnheim und Teetrinken aus. Ich würde mir von Guillaume eben noch mal den Unterschied zwischen Black-, Deathmetal und Grind erklären lassen, den ich schon mindestens zwanzig Mal vergessen hatte. Dinge, die mir meine Mitmenschen berichten, kann ich mir nur in Ausnahmefällen merken. Im Gegenzug bin ich dafür aber auch sehr tolerant, wenn sich andere mir gegenüber genauso verhalten. Und objektiv betrachtet hat die Vergesslichkeit zumindest den Vorteil, dass man jeden Tag was Neues erfährt.

 

Auf dem Rückweg kamen wir an der Barrio Latino vorbei, eine Bar, der meine Ablehnung gehörte, weil ich in ihr noch nie einer Person begegnet war, die sich nicht amüsierte, ausser mir selbst. Barrio Latino gehörte de facto den spanischen Erasmusstudenten. Spanier waren ja grundsätzlich permanent in Partylaune. Dass ich da nur störte, versteht sich von selbst. Wir kamen aber nicht ungeschoren vorbei. Es waren nicht viele Leute da, aber ausreichend, damit mich eine Studentin erkannte. Darin lag das Problem in Pau. Nirgendwo blieb man unerkannt, weshalb mein Ruf, alleine durch die Gegend zu ziehen, auch den letzten Winkel erreicht hatte. Die Gäste in der Bar tanzten gerade Salsa. Die Studentin, Namen hatten wir noch nicht ausgetauscht, forderte mich zum Bleiben auf, was Mittanzen bedeutete. Ich konnte aber erstens kein Salsa und zweitens war das ein Tanz für Schwule. Das dachte ich zwar nicht, dafür aber alle andern und mir war es nicht egal, was alle andern dachten: «Je reste seulement, si Guillaume veut rester aussi», gab ich die Verantwortung an ihn ab. Er sah das mit dem Salsa genauso, traute sich aber auch nicht, ihr zu widersprechen. Schliesslich war sie nicht hässlich. Zum weiteren Verlauf nur soviel: alle Anwesenden waren mit uns sehr geduldig, wir nicht sehr geschickt, dafür sehr lustig anzuschauen, was auch uns selbst immer wieder aus dem Konzept brachte, zumal wir gleichzeitig permanent aufpassen mussten, ob draussen jemand vorbeilief, bei dem die Gefahr bestand, dass er das Gesehene weiterpetzte. Meine Salbe konnte ich, bevor sie von der Salsagruppe bemerkt wurde, noch schnell mit meinem Ärmel abwischen, an dem man sie nicht mal sah. Er hat ja, wie gesagt, die gleiche Farbe.

 

Weitere pikante Details gibt es nur bei Anfrage. Ausserdem ging es heute ursprünglich um meine Barcelonareise. Aber die ist wohl irgendwie zwischen die Räder gekommen. Wenn es klappt, klappt es wohl nächste Woche, aber wer weiss das heute schon.