Zurück zu Stephan
Einunddreißigste Woche
Jetzt ist auch schon wieder Mai, da störts
wahrscheinlich niemanden, wenn Stephans Barcelona-Spritztour mitte April
stattgefunden hat. Wer will schon heute noch kleinlich sein, erst recht, wenn
vor einem Monat die Welt noch viel rosiger aussah? Da gab es nämlich Ferien
und die Sonne lachte, nur dass sich in Pau Stephan davon natürlich nicht
beeindrucken liess, weshalb er sich darauf einrichtete, bei heruntergelassenen
Rolläden die Zeit, mit der er nichts anfangen konnte, in der Wohnheimszelle
zu überdauern. Aber Projekte scheitern ja oft am Wetteifer und am schlechten
Gewissen. Marie Jo aus dem Zimmer 214 und aus Madagaskar, je nachdem, wie mans
nahm, war schon am Freitag mit ihrem Liebhaber, der das aber auch nach sieben
Monaten Beziehung noch nicht zugeben möchte, los und Florian pendelte seit
Sonnabend in diversen Nachtzügen durch Süd-Frankreich und versprach erst zurückkommen,
wenn er mit mindestens drei Französinnen geschlafen hatte. Da blieben wieder
mal nur die Marokkaner, die aber trotzdem nicht auf die wöchentliche Palästina-Demo
mitkamen, eine Hypokrisie, die Stephan
bis an sein Lebensende nicht vergessen wollte. Paris-Roubaix wurde mal wieder
von dem Falschen gewonnen und nicht von Steffen Wesemann, es gab also keinen
nicht fadenscheinigen Grund, die Woche über in Pau zu bleiben, eine
Diskussion, die auch Stephan nachvollziehen konnte, wenn auch mit gemischten
Gefühlen, aber die waren ihm ja nichts neues.
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Montag früh ging es los, um sechs aufgestanden,
Teewasser aufgesetzt, Tee aber aus Zeitgründen nur aufgebrüht und nicht
getrunken, mit Rucksack zügig zum Bahnhof gelaufen, um den sieben Uhr-Zug zu
erwischen. Am Bahnhof rechtzeitig eingetroffen, festgestellt, dass der
Jugendherbergsausweis fehlte, wieder umgekehrt und etwas weniger zügig zurückgelaufen,
dafür statt durch die Rue JJ. Monaix durch die Rue Richelieu,
damit der Lebensmittelhändler Ecke Rue Dévéria nicht so komisch
guckte, wenn Stephan binnen kurzem das zweite Mal vorbeikam. Im Wohnheim
festgestellt, dass er gar keinen Jugendherbergsausweis besass, aber einen
Reisepass, warum nicht. Der Earl Grey war inzwischen abgekühlt, schmeckte
aber trotzdem nicht. Aufs neue zum Bahnhof, doch durch die Rue JJ. Monaix,
weil es eigentlich auch egal war, was der Lebensmittelhändler dachte. War
schliesslich auch nur ein Mann. Am Bahnhof war kein Bäcker, kaufte er sich
stattdessen eben den Le Figaro. Der
Vorteil am Le Figaro-Lesen war, dass
der Schaffner nicht so genau das Ticket prüfte, da man auf ihn damit einen
ehrlicheren Eindruck hinterliess als mit dem Wahlprogramm der Ligue
Communiste Révolutionnaire.
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In Toulouse hatte der Anschluss-Zug extra 15 Minuten
Verspätung, damit der Bahnhofsbäcker mehr Umsatz machte. Es war mittlerweile
11 Uhr, eigentlich auch für Stephan ein Grund, sein erstes Croissant zu sich
zu nehmen. Zwar fand er Croissants seit mitte November eklig, aber wer was
anderes wollte, wurde scheel angeguckt. Scheel wie schief, aber ohne i und f.
Stephan entschied sich aber aus mehreren Gründen, sein Hungerast durch Ignoranz
zu besiegen. Erstens wollte er sich vor allen andern den besten Platz auf dem
Bahnsteig sichern, um als erster einzusteigen. Als erster einsteigen, eins der
letzen Abenteuer, das sein Leben noch bot. Zweitens war auf die Angaben der
Franzosen sowieso selten Verlass. Aus 15 Minuten konnten auch gut und gerne 2
werden, und wenn er dann am Bäcker stand, würde der Zugfahrer sicherlich
nicht auf ihn warten. Das hatte er mal in La
République des Pyrénées gelesen, dass Züge, die zu spät kamen, nicht
auf Fahrgäste warteten, die noch später kamen. Natürlich bestand bei diesem
Hunger auch das Risiko eines Schwächeanfalls. Aber im Notfall musste er eben
rechtzeitig jemanden bitten, ihn und seinen Rucksack in Carcassonne, seinem
Zwischenhalt, aus dem Zug zu kippen.
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Sein Abenteuer blieb aber aus, da er wegen zwei
weiblichen Mitwartenden mehrmals seinen Standort verrücken musste, um
rauszukriegen, ob die guckten. Er guckte also nicht, weil er sich für sie
interessierte, sondern weil er wissen wollte, ob sie sich für ihn
interessierten, so wie in dem Massive Attack Song: I was
looking back to see if you were looking back to me to see if a was looking
back to you. Schade nur, dass aus eben diesen Erwägungsoptionen selbst
langes Anstarren heutzutage kein zuverlässiger Indikator mehr für die
Beliebtheit war. Stephan hatte aber immerhin eine Guckweise entwickelt, die es
anderen quasi unmöglich machte, zu wissen, ob sie gemeint waren. Er setzte
eine Sonnenbrille auf, kniff die Augen zusammen, drehte seinen Kopf schräg
nach unten, leichter Linksüberhang und lief mehrmals eng um die betreffenden
Personen rum. Damit war im Prinzip jedes Spannen möglich. Die eine der beiden
schaute nicht, die andere mal ab und zu, weshalb Stephan beschloss, sie sich
zu merken. Das Problem war nur, dass er jedes Mal Schwierigkeiten hatten, sich
darauf festzulegen, was er sich eigentlich merken sollte. Er merkte sich
einfach, dass sie geguckt hatte. Das war einfach, das liess sich gut behalten.
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Im Zug nach Carcassonne ging es mit seinem Hunger nicht
bergab. Gegenüber von ihm ass ein Mann in den Wechseljahren gleich zwei
Sandwichs, eigentlich anderthalb zu viel für ihn. Fragen traute er sich
nicht, aber wenn er ihn nur lange genug aus leidenen Augen anstarrte, dann
musste er doch von selbst darauf kommen, ihm alles zu überlassen. Der Mann
liess sich aber nicht beirren, auch nicht als Stephan anfing, sich den Bauch
zu reiben und mjam mjam zu murmeln. Er blickte einfach stur aus dem Fenster.
Stephan griff in seine Jackentasche, in der sich neben Taschentüchern, Sand
und Kaugummipapier noch ein paar Brötchenkrümel befanden. Sommer 2001. Nicht
gerade ein Festmal, aber besser als gar nichts. Jetzt, wo es ums Überleben
ging, durfte man nicht so wählerisch sein.
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In Carcassonne zur Touristeninformation gegenüber vom
Bahnhof. Vorher noch die Brille gegen die coole Sonnenbrille ausgetauscht. In
Carcassonne hatte die Touriberaterin noch kein eigenes Büro mit Küche,
Mikrowelle, eigenem Internetanschluss und Playstation, sass stattdessen in
einem kleinen Mikrokiosk, den sie nur verlassen konnte, wenn sie mit ihrem
Ikeastuhl rückwärts rausrollte. Vorher musste sie dazu aber ihren letzten
Kunden bitten, ihr von aussen die Tür aufzumachen. Wer der letzte Kunde war,
war natürlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit vorher zu bestimmen, da
der das ja im Normalfall nicht mal selbst wusste und sich somit auch nicht als
solcher vorstellte. Kein eigenes Büro, dafür aber ein Jahr in Deutschland
verbracht: «Salut… » « Ah, sie sind Deutscher, lassen sie mich
raten, aus Berlin, genauer Berlin-Ost, Mitte, nehme ich an. » «Nein,
aus dem Bezirk Pankow-Weissensee-Prenzlauer Berg. Woher wissen sie das so
genau?» «Ihr Akzent. Ich war ein Jahr in Göttingen. Sie sprechen aber gut
Französisch.» «Mais oui, parce que je suis en France depuis septembre.
J’étudie à Pau.» «Reden wir doch Deutsch, das geht besser.»
« Non, je veux parler français.» «Ist mir aber egal. Was
wollen sie wissen?» «Pour l’auberge de jeunesse, est-ce qu’il me faut
une carte d’auberge de jeunesse?» «Sie können sie dort kaufen.» «Vous
avez un guide de tourisme pour les curiosités et un plan de ville?» «Ja,
hier.» «En français, s’il vous plait.» «Sind sie sich sicher,
dass sie das verstehen?» «J’ai un dictionnaire.» Die Antipathie überwog
die Neugierde Stephans, wissen zu wollen, wie die Frau es eigentlich mache,
wenn sie auf Toilette müsse.
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Carcassonne sollte nach Meinung vieler eine sehr schöne
Stadt sein, nicht nur der alte, auf einem Hügel liegende und von einer
Festung umgebende mittelalterliche Kern. Aber für die Architektur hatte er
keine Augen. Augen hatte er nur für die Frage, würde er es noch lebend zum Bäcker
schaffen. Zum Glück ging es leicht bergab, das minderte die Reibungswirkung
an der Luft. Er konnte sich also einfach gehen lassen. Wenn ihn die Kraft und
seine Kaumuskeln gänzlich im Stich liessen, musste er die Verkäuferin in der
Boulangerie eben bitten, das Croissant schon mal vorzukauen und die kleinen
Breiklumpen durch einen Strohhalm in seinen Schlund zu blasen. Das erwies sich
jedoch dann doch nicht als notwendig. Dafür war die Jugendherberge voll,
belegt mit einer Horde Spanier. Jetzt hatte er den Rucksack umsonst in die
Altstadt hochschleppt. Konnte er jetzt noch erzählen, in Carcassonne gewesen
zu sein? Stadtbesuch galt nur als Stadtbesuch, wenn es über den auch was zu
berichten gab. Die Jugendherberge war hier sicherlich der einzige Ort, an dem
was passierte. Lief er nur ein bisschen durch die Gassen, hatte er jedes Mal
das Gefühl, nicht alles versucht zu haben, in Kirchen und Museen erwartete
einen auch überall das gleiche und die restlichen Sehenswürdigkeiten
bestanden aus Mauern. Er kaufte sich einen Film in einem Souvenirshop,
himmelhoch überteuert, aber zum Glück wusste er nicht, wie billig ein Film
zu sein hatte, da er sich den Apparat von seiner Schwester ausgeborgt und
vorher jahrelang nicht fotografiert hatte. Die Souvenirverkäuferin liess sich
nicht in ein Gespräch verwickeln und tat so, als könne sie keinen Film
einlegen. In Deutschland reichten schon mindere Vergehen, um entlassen zu
werden. Ein Mann draussen hatte eine Kamera, die zumindest optisch aus der
gehobenen Preisklasse stammte. Der sollte das ja draufhaben. Der tat auch so.
Stephan musste ihn dann aber beim Einlegen permanent korrigieren, was einer
zukünftigen möglichen Freundschaft jegliche Perspektive nahm. Aber was blieb
ihm anderes übrig, wenn die Alternative ein kaputter Fotoapparat und ein
nicht mehr zu gebrauchender Film waren.
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Nachdem dies ausgestanden war, ging er wieder Richtung
Bahnhof, diesmal über den Pont Neuf und nicht über den Pont Vieux,
damit er alles mal gesehen hatte. Besser, heute in Perpignan zu übernachten,
als spätnachts in Barcelona einzutreffen. Am Square Gambetta standen
zwei Telefonzellen. Er beschloss, vorher in der Jugendherberge in Perpignan
anzurufen. Man konnte nie wissen, wenn er schon hier keinen Platz bekommen
hatte. Die Frau am anderen Ende der Leitung gehörte eindeutig nicht zu seiner
Alterskohorte, was durch drei Indizien gestützt wurde: sie hörte schwer, sie
schrie, ohne dass man sie verstand und sie legte auf, bevor er sein Anliegen
ausformuliert hatte. So hatte er mal wieder seine einzigartige Fähigkeit zum
logischen Denken unter Beweis gestellt . Sehr nach Jugendherberge wirkte das
nicht. Vielleicht hatte sich die Nummer geändert. Er rief noch mal an,
diesmal würde er eben die Frage nach den freien Plätzen ganz schnell stellen
und auch sehr laut. Natürlich war ihm klar, dass ihm das gegenüber dem Mädchen
in der anderen Zelle peinlich sein musste. Die würde bestimmt blöd gucken,
wenn er schrie: «Avez vous encore une place pour cette nuit?» Aber er
hatte sich im Laufe seines Lebens daran gewöhnt, dass ihm Dinge peinlich
waren. Sie guckte aber nicht, dafür weckte er den Obdachlosen auf, der gerade
auf der Bank nebenan seine Siesta hielt. Als Anwort bekam er auch nur so etwas
wie 17 Uhr. Ob das nun hiess, man hatte bis 17 Uhr zu reservieren oder ab 17
Uhr zu kommen, blieb seiner Interpretation überlassen, da er nicht mehr
nachfragen konnte. Der nächste Zug fuhr um 15:13, in Narbonne musste er
umsteigen und 16:51 wäre er dann in Perpignan. Bis um 15:13 waren es noch
fast zwei Stunden. Stephan kaufte sich eine Apfeltasche und ein
Schokocroissant und setzte sich an den Brunnen auf dem Place Carnot.
Sah alles ganz hübsch aus, aber warum war er eigentlich hier? Nachdem er
aufgegessen hatte, lief er noch ein bisschen rum. Vielleicht würde er es ja
so rauskriegen. Reichte pittoreske Architektur, um einen glücklicher zu
machen, wenn auch noch das Wetter dazu beitrug, seiner Stimmung einen Strich
durch die Rechnung zu machen? Nein. Aber es wurde wenigstens auch nicht
schlimmer, weil hier nicht so viel Menschen in seinem Alter flanierten, unter
denen er sich alleine vorkam. Die Nebensaison
bescherte wenigstens der Altstadt noch ein bisschen Ruhe.
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Einen Zeitungsladen gab es auch. So liess sich die Zeit
überbrücken: Michael Schumacher hatte wieder gewonnen und Leverkusen würde
möglicherweise doch nicht Meister werden. Der Port du Canal du Midi,
der vor dem Bahnhof langführte und in dem sich ein par Kutter langweilten,
gehörte neben der 2000 Jahre Altstadt zum UNESCO-Erbe. Stephan nahm für
seine Verwandten und für den Fall, dass er auf die Zeit in Frankreich mal mit
Nostalgie zurückblicken gedachte, ein Foto auf. Warum auch nicht? Strahlte
immerhin eine angenehme Ruhe aus, wenn man aufpasste, dass man das McDonalds
im Hintergrund nicht mit im Bild hatte. Aber zum Glück war das Objektiv nicht
gross genug.
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Diese Geschichte geht noch weiter, wahrscheinlich schafft
es der Protagonist auch schon nächste Woche bis nach Katalonien, cool wa?
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