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Fünfunddreißigste Woche

Irgendwann ist auch die schlimmste Diarrhoe mal vorbei. Es reicht im Normalfall, Marokko zu verlassen, was für manche allerdings eine Rückkehr nach Pau impliziert. Damit das ganze nicht wie ein beschämender Rückzug aussah, kurvte ich vorher noch einige Tage durch Südspanien. Mein politisches Temperament war den Spaniern auch gleich den ersten Generalstreik seit 8 Jahren wert, was mir die Möglichkeit bot, mir keine Museen und Sehenswürdigkeiten anschauen zu können, da die geschlossen blieben gleichfalls mir aber nicht die Frage ersparte, ob sich mein Trip nun einer Interrailreise als würdig erwies oder nicht. Darf man drei Wochen reisen, ohne einmal auch nur in die Nähe von Sex gelangt zu sein? Sind sich halbstündig wiederholende Toilettenbesuche in der Jugendherberge in Fès abenteuerlich genug, um seine Heimkehr nicht mit gesenktem Kopf vollziehen zu müssen, unter den verächtlichen Blicken meiner französischen Freunden, die doch schon immer wussten, dass Reisen sich nicht lohnte. Diese Frage hatte ich immer noch im Gepäck, als in Irun eintraf, dem auf der spanischen Seite des Baskenlands befindlichen Grenzorts, der sich längst nicht mehr ums Rausputzen schert, da ihn alle eh nur zur Durchreise nutzen, und mich Regen empfing. Ein Zeichen? Ich bin ja sehr agnostisch aber manchmal wünscht man sich doch, das eigene Leben stände in einem grösserem Zusammenhang.

 

Um die Reaktionen meiner französischen Freunde brauchte ich mir allerdings keine Sorgen zu machen, zum einen weil ich keine besass, so versichert man sich menschliche Enttäuschungen und zum anderen gab es die, die ich doch besass, längst nicht mehr. Es ist schon seltsam, wie leer das Wohnheim jetzt ist, man ist nicht nur der einzig verbliebene Erasmusstudent, auch die anderen ausländischen Studenten und die Franzosen sind praktisch alle weg. Die einzigen, die einen nicht verlassen, sind die Marokkaner, die sich eine Heimkehr nach Marokko nicht leisten können und vielleicht noch ein paar Chinesen. Selbst wenn sich die Marokkaner alle freuen, dass ich ihrem Land einen Besuch abgestattet habe, bin ich beim Halbfinale Deutschland-Südkorea doch als Einziger für die DFB-Elf. Im Gegenzug enttäusche ich sie, weil ich nicht behaupte, dass Marokko mein neues Lieblingsland. Seitdem ich mich mal vorschnell auf die Schweiz festgelegt hatte und es später bereute, bin ich nicht mehr so schnell im Superlative Verteilen. Und die Marokkaner lösen das Ambiente, dass einem hier im Wohnheim jetzt umweht, auch nicht: Leere, was dann bei mir auf Einsamkeit hinausläuft. Keiner da, nicht mal die, die ich nicht sehen möchte, wobei mir im Moment wohl fast jeder recht wäre, der im letzten Jahr so etwas wie eine Konstante war. Meine Nostalgie, die mich zwingt, alles oder jeden zu vermissen, auch wenn ich es eigentlich scheisse finde, solange es nur der Vergangenheit angehört, brockte mir auch gegenüber Pau wieder diese Sentimentalität ein, nach der ich nicht gefragt hatte. Pau ist nicht Berlin hat also auch keine Gefühle verdient. Aber gegen mich war nichts zu machen? Die meisten Menschen ertrug ich nicht lange, ohne sie war es auch nicht besser. Half mir da eigentlich mal einer raus?

 

An der Tür von Marie Jo hatte jemand geschrieben: «Marie Jo, je t’aime! Je t’aime vraiment fortement! Ton chéri.» Ich war ja in Gefühlsdingen nicht für solchen Pathos, vor allen Dingen nicht für einen Begriff wie chéri. Aber die einzige Nachricht die ich in meinem Zimmer fand, war ein Zettel von Florian, der sich bei mir dafür bedankte, dass er die letzten Tage vor seiner Abreise in meinem Zimmer hatte übernachten können. Nette Geste, aber Florian war eben leider auch nur ein Junge, vielleicht auch ein Mann. Aber ich hätte wohl im Moment auch nichts dagegen gehabt, Florian zu sehen, Hauptsache jemanden, mit dem man nicht rechnet. Allerdings hielt das Leben selten Überaschungen bereit. Warum sollte das in Pau anders werden? Bis Berlin war noch ein Monat, ein Monat zum Nachdenken, ein Monat um die neue Tocotronic zu hören, bei denen es mit den grossen Hymnen endgültig vorbei ist und man jetzt interpretieren darf, gegenüber deren Werk man sich aber trotzdem klein vorkommt, ein Monat um ins Kino zu gehen und zum Beispiel 101 Reykjavik zu sehen, ein Film über einen 30jährigen, der nicht erwachsen werden möchte. Wer will es ihm verübeln? Und ein paar Wochen Tour de France, ohne Jan Ullrich, weshalb der zweite Platz dieses Jahr offen ist. Ach ja, das eine Lied von DJ Mehdi ist sehr schön.