Zurück zu Stephan
Sechsunddreißigste Woche
Es
gibt eigentlich nicht viel zu tun hier, aber das war auch schon bekannt.
Immerhin, ein kleiner Umzug nach Gaston Phoebus, dem anderen
Studentenwohnheim war schon noch drin, der Abwechslung wegen und weil Corisande
geschlossen wurde. Wer ist Gaston Phoebus?, fragte ich mich schon seit
Beginn meines Pau-Aufenthaltes, da sich hier so ziemlich jede zweite Strasse
und jeder zweite Platz mit seinem Namen schmückt. «Ouais … c’était
un type du coin, un prince. Il était super sympa, un grindeur.» Ich gab
mich mit dieser Antwort von meinem manisch-depressiven Kumpel Guillaume
zufrieden, der sich allerdings, seit er sein Geschichtsstudium geschmissen
hatte, eindeutig besser mit japanischen Metalbands auskannte. Aber in die
Bibliothek gehen und nachschauen war auch uncool. Das sah nach
Bildungsaufenthalt aus und wer suchte sich schon dafür Pau aus, ausser
ich vielleicht?
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Ausserdem
bot Gaston Phoebus mehr Komfort, zumindest mein Gebäude, Bâtiment D.
Wen interessierte da schon noch der Name? Die 20 Watt-Glühbirne der
Bettleselampe war der Modernisierung zum Opfer gefallen und durch eine 60
Watt-Glühbirne ersetzt worden. Ich musste mir jetzt, in den letzten drei
Wochen, also keine Sorgen mehr machen, durch zu viel Lesen noch blinder zu
werden. Der Keiderschrank hatte nicht nur wie in Corisande eine Vorhang
zum Zuziehen, sondern stattdessen sogar Türen. Für potentiellen Besuch war
es somit noch schwerer, einen Blick auf meine Unterwäsche zu werfen. Dabei
hatte ich die extra so ausgesucht, dass sie auf potentiellen Besuch einen
guten Eindruck hinterliess. Aber zum Glück bekam ich keinen potentiellen
Besuch.
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Das
liess mir mehr Zeit, mich über mein Regal zu freuen, das ich jetzt hatte, die
Pinnwand und die Schublade unterm Schreibtisch. Oder mich darüber zu ärgern,
dass mir das zehn Monate lang vorenthalten worden war. Bestimmt funktionierte
hier im Winter sogar die Heizung. Und dann wirkte das Zimmer sogar noch grösser.
Und das für die gleiche Miete. Zum Glück war ich nicht anspruchsvoll und
materialistisch, so dass ich meine Unzufriedenheit anderen Details widmen
konnte. Zum Beispiel wohnte im Bâtiment D keiner, den ich kannte. In
den Etagen über mir gab es ein paar Amerikanerinnen, die den Sommer hier
verbrachten. Aber die bekam man nie zu Gesicht. Vielleicht lag das daran, dass
ich immer den Seiteneingang benutzte. Ausserdem zählten Amerikaner auch nicht
zu der Gruppe Menschen, die man am liebsten kennenlernen wollte. Von den hiess
es, sie hielten Jean Jacques Rousseau für den französischen Präsidenten,
Frankreich für eine Diktatur und dass sie französische Pizzen verschmähten,
weil sie nicht wussten, aus was in diesem Land der darauf befindliche Käse
bestand. Mein soziales Netzwerk in meinem Gebäude bestand bisher
ausschliesslich aus meinem spanischen Nachbarn aus Nummer 17 und drückte sich
in den zwei Gesprächen aus, die ich mit ihm geführt hatte: «Salut. Tu as
une casserole?» «Oui. Pourquoi?» «Je veux faire à manger.
Tu peux me la prêter?» «Oui.» «Merci.»….. «Salut.
Je te rends ta casserole.» «Merci.» «Je voulais pas te déranger
hier soir.» «C’est gentil.» «Au revoir.» «Au
revoir.» Das ist nicht gerade
viel, aber mir fallen immer keine Gesprächsthemen ein. Und bei Jungen fehlt
mir dann zusätzlich noch die Motivation, die mich gegenüber Mädchen
wenigstens nach Scherzen suchen lässt. Aber wir lächeln uns beim Grüssen
zu.
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Ich
könnte in die anderen Gebäude gehen, wo mal wieder mehr los ist, weil dort
die Afrikaner untergebracht sind. Aber denen muss man sich auch erst mal
unaufdringlich vorstellen: «Bonjour, ça va. Je suis Stephane de bâtiment
D. Chez moi, c’est mort. Il ne se passe rien. Allez vous faire une fête ce
soir?» Da konnte man auch gleich hinzufügen: «Ce serait très gentil
si vous me laissiez fêter avec vous, parce que je n’ai pas de copains.»
Das wurde einem vielleicht nicht abgeschlagen, aber dafür, sich dann auf der
Party nicht fehl am Platze zu fühlen, war man immer noch selber
verantwortlich. Wie sollte man das mit seinem Prinzip vereinen, keinen Alkohol
anzurühren. Der einzige, den es zu mir hinzog, war der 40jährige Brite, der
neben Französisch auch Deutsch studierte und im zweiten Semster dieselben Übersetzungskurse
zum Thema Gentechnik besucht hatte, ohne dann aber die Klausuren
mitgeschrieben zu haben. Bisher hatte ich ihm nicht mehr als: «Salut
Stephane.» «Salut.» zugestanden, ohne auf sein: «Ca va
Stephane?» zu antworten, was er sowieso schon so mechanisch
runterspulte wie die Franzosen. Die Verantwortung für die Antwort auf seinen
gleich in der ersten Woche an Florian und mich gerichteten Vorschlag, sich mal
ausserhalb der Uni mit ihm zu treffen, gab ich an Florian ab, indem ich so
tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Meine konsequente Ignoranz lässt sich
sicherlich kritisieren und zeigt nur, dass es der Kommunismus unter mir zu
nichts bringen würde. Aber meine Eitelkeit ist in solchen Fragen zu stark für
meine Solidarität mit Aussenseitern, als dass sie es zulassen würde, wenn
ich mich mit jemandem umgeben würde, der meinem Image schadet oder schaden könnte.
Selbst mit gutem Willen gelingt es mir nicht, einem 40jährigen Mann, den ich
hässlich finde und auch unprofessionell, weil er in seinem Alter abwechselnd
T-Shirts von der Uni-Heidelberg und Arsenal London trägt, Interesse
vorzuheucheln, damit er nicht ganz so isoliert ist und sich nicht alleine fühlt.
Und dann noch die Handytasche an der Gürtelschnalle und die Sandalen. Andere
deutsche Erasmusstudentinnen, welche Interesse vorgeheuchelt haben, meinen ja,
die Sandalen trüge er, damit er neben dem Popeln besser an seinen Fussnägeln
pulen kann. Vielleicht stimmt das sogar. Das Sein prägt ja das Bewusstsein
und somit auch Kleidung und Verhalten. Und wenn sowieso niemand mit einem was
zu tun haben will, dann kann man sich auch gehen lassen. Zumal es schon von
Grund auf deprimierend und demütigend ist, sich in einem Milieu Freunde
suchen zu müssen, in dem alle 20 Jahre jünger sind als man selbst.
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Mehr
als Verständnis kann ich mir nicht abringen und auch wenn ich mich zweimal zu
einem sehr kurzen Small Talk über die Fussball-WM habe hinreissen lassen, so
versuche ich weiterhin, mich in der Mensa so hinzusetzen, dass neben mir für
ihn kein Platz mehr frei ist. Das ist natürlich jetzt, wo das Semester vorbei
ist, schwieriger, weil weniger Leute Essen gehen, was das ganze Unterfangen
auch weniger interessant macht. Schliesslich ist kaum noch jemand anzutreffen,
dessentwegen sich ein Mensabesuch lohnt. Die Gerichte waren bei mir das Jahr
über nur der vorgeschobene Grund. Essen ging ich hauptsächlich der Mädchen
wegen, die sich beobachten liessen. Beobachten, ohne dass die Personen das
mitkriegen, darin bestand die grosse Kunst. Am besten eignete sich dafür ein
Platz in der Ecke, weil man da den Kopf nicht so drehen musste. Ein Tisch in
der Mitte war die Katastrophe, schliesslich hatte man da nichts unter
Kontrolle. Ich fühle mich da immer total unwohl. Oft schrammte ich haarscharf
an der günstigen Ausgangsposition vorbei, wenn ich zum Beispiel zwar den
richtigen Tisch erwischte, aber mit dem Rücken zu den anderen Mensabesuchern
sass, weil auf meinem Stuhl schon vor mir jemand Platz genommen hatte. Das war
umso ärgerlicher, wenn der das nicht zu würdigen wusste und sich ums
Beobachten einen feuchten Dreck scherte. Mich reizte es in solchen Fällen,
ihn zu bitten: «On peut pas changer de place.» «Pourquoi?»
«Parce que tu ne regardes pas.» «Regarder quoi?» «Les
autres.» «Pourquoi? Est-ce qu’il faut regarder les autres pour
pouvoir être assis ici?» «Non, mais c’est quand même mieux.»
Ich habe mich aber nie getraut. Momentan fand sich recht einfach ein
guter Platz, allerdings bestanden auch wenig Gründe, sich um diesen zu
streiten. Selbst die Kassiererin langweilte sich. Und die Essensfrauen, sonst
knauserig, gaben einem ohne zu murren mehr, als man eigentlich wollte. Das
liess die Abwesenheit der studentischen Hilfskraft, die das Jahr über mit dem
Steack haché und der grossen
Portion Pommes eingesprang, verschmerzen. Nichts hatte sich allerdings an
meiner sprachlichen Armut geändert, weshalb ich die Bestandteile der Speisen
wieder erst im Nachhinein wusste, nachdem ich im Wörterbuch nachgeschaut
hatte. Hätte ich vorher gewusst, dass Blumenkohl chou-fleur hiess, ich
hätte mir die unangenehme Situation ersparen können, mit dem Finger drauf
zeigen zu müssen. Hatte ich eigentlich in dem Jahr was dazu gelernt? Ja, dass
Apfelmuss compote de pommes hiess.
Das aber auch nur, weil ich es jeden Tag aß. Wozu tat ich mir den täglichen
Gesichtsverlust überhaupt an? Wohl, damit ich am Tag wenigstens etwas tat. «Was
hast du heute gemacht?» «Ich war in der Mensa.» Hört sich besser an als:
«Nichts!»
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Gaston
Phoebus lag soweit draussen, dass das Stadtzentrum Paus für einen
Normalmenschen gar nicht mehr zum Einzugsgebiet gehörte. Tagesüber wurde ein
bisschen Tennis gespielt. Abends schaute man den Japanern aus dem Wohnheim
beim Basketballspielen zu, bis diese von den Afrikanern vertrieben wurden. Und
dazwischen ging man ins Megakino CGR
oder in die Comicecke vom Centre
Culturel Le Parvis oder man hörte sich dort CDs an, damit man die nicht
kaufen musste und die Batterien vom eigenen Discman nicht so schnell alle
wurden. Für Freitag und Sonnabend brauchte man jemanden mit Auto, mit dem man
zum Kily fahren konnte, der Disko für den wochenendlichen drague.
Damit das besser klappte, gab es Babytechno und Zouk, den ich aber
nicht so gut wie die Afrikaner beherrschte und nicht beherrschen wollte,
weshalb ich das eine Mal leer ausging und wieder mal in meiner Meinung bestätigt
wurde, dass die Diskos in Berlin verglichen mit denen von Pau noch eher das
Etikett verdienen: No surface, all feeling. Aber danach wurde ich nicht
gefragt. Ich gucke den Japanern jedenfalls nicht beim Basketballspielen zu,
aus Angst, sie gucken zurück. Man muss den Blickkontakt nicht übertreiben.
Und zum Tennis bringe ich es auch nicht mehr, weil ich im Gegensatz zu allen
andern nicht das ganze Jahr über trainiert habe. Wer will schon einen Gegner,
der ihm nicht ebenbürtig ist? Stattdessen bin ich den Vormittag über in der
Uni, unter dem Vorwand, im Internet zu surfen, in Wirklichkeit aber, um mich
von meinen Klausurergebnissen aufbauen zu lassen, was ich aber niemandem
verrate, weil es ja uncool ist, wenn einem Klausurergebnisse wichtig sind.
Allerdings werde ich jeden Tag wieder auf morgen vertröstet, obgleich die
Ergebnisse der Franzosen, die die gleichen Examen geschrieben haben, schon
seit einer Woche aushängen. Ist das Rassismus? Zumindest eröffnet das Gesprächsstoff
für eventuell sich ereignende Begnungen mit Halbbekanntschaften, die in Pau
nie ausgeschlossen sind: «Salut Stephan. T’as déjà les résultats des
examens?» Solange ich darauf keine abschliessende Antwort gebe, kann die
Frage auch beim nächsten Mal wiederholt werden und man muss sich nicht schämen,
wenn man sich nichts zu sagen hat. In der Uni treffe ich allerdings nie
Halbbekanntschaften, nur den Typen mit dem Planet Hollywood T-Shirt, der mir
auch nur deshalb aufgefallen ist, weil er doppelt so breite Kiefernknochen hat
wie ich. Der sollte eigentlich seine Ergebnisse schon wissen. Habe ihn aber
nicht danach gefragt.
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Ich
höre mir die CDs immer bei Fnac im Zentrum an. Kaufen tue ich dort aber aus
Protest nichts, weil auf der Muse-CD ein Nice Price-Aufkleber
ist und die trotzdem 25 Euro kostet. Dafür gewinnt man wegen dem weiten
Fussweg Zeit, ebenso wie dadurch, dass man die Wäsche nicht im Wohnheim
sondern im Waschsalon am Place de Forail wäscht. Kostbare Stunden, die
verstreichen. Auf dem Weg dahin kommt man an den Pétanque-Spielern vorbei,
aber die sind ohnehin überall. Obwohl ich es mir vorgenommen habe, haben sie
mich noch immer nicht zu einem Pétanque-Text inspiriert. Aber Pau hat auch
seine guten Seiten, wie zum Beispiel das Matisse,
die Anarchisten-Bar gegenüber dem Muséé
des beaux arts, in der ich, weil ich dort
fast jeden Tag eine Cola trinke und die L’équipe lese, von J.P., dem Patron, persönlich begrüsst werde.
Er hat mir auch schon erzählt, dass er Rugbytrainer ist und die italienische
Fussballnationalmannschaft mag. Ich ihm, dass das französische Unisystem doof
und dem deutschen unterlegen ist. Seine Frau bemitleidet mich wegen der
Nichtteilnahme von Jan Ullrich bei der Tour de France. Und das Gras auf
dem Campus riecht gut zur Zeit, irgendwie noch sehr frisch, dafür, dass schon
Juli ist. Macht sich eben bemerkbar, wenn kaum Studenten da sind, die rübertrampeln
und dass sich Pau nie mehr als zwei Tage am Stück ohne Regen gönnt. Abends
kann das dann sogar im Nebel mal richtig malerisch aussehen. Jedoch bin ich
kein Maler, nicht mal ein Photograph, höchstens ein schlechter.
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Am
Sonntag schaut Felicien in Pau vorbei, einer der Loft-Teilnehmer,
dem französischen Big Brother, dessen zweite Staffel gerade ausklingt.
Da soll noch einer sagen, hier wäre nichts los. Gelegenheit für viele
Paloiser, sich bei ihm dafür zu rächen, dass er ihre Region, Aquitaine,
aus der er stammt, in der Rolle des Container-Trottels so beschämend repräsentiert
hat. Guillaume will sich die Chance nicht nehmen lassen. Ich kann ihn
verstehen, finde aber, dass die erste Etappe der Tour de France wichtiger
ist.
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