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Neunte Woche

Der Kampf gegen den Terrorismus und gegen menschenrechtsverachtende Regimes war nicht nur eine Makrofrage. Auch das Studentenwohnheim Cité Universitaire Corisande d'Andoins lag im Würgegriff religiösen Fanatismus. Nicht alle hatten darunter gleichermassen zu leiden, aber verborgen blieb keinem, dass die Sarah, deren Oma afghanische Vorfahren hatte, von den arabischen Kommilitonen aus der ersten Etage immer sehr herablassend behandelt wurde. So durfte sie zum Beispiel immer erst in die Küche, wenn diese aufgegessen hatten, was, wie bei Arabern üblich, schon mal sehr spät werden konnte. Dabei hatte Sarah am nächsten Tag immer um 8 ihren ersten Kurs, während die erst gegen mittag Veranstaltungen besuchten. Oft verzichtete sie deshalb darauf, sich abends was zu essen zu machen und würgte sich nur den Rest vom trockenen Baguette runter, welches sie sich am Morgen gekauft hatte. Sie durfte um 20 Uhr auch nie Popstars gucken, weil die Araber immer die Fernbedienung reserviert hatten, um auf TF 1 die Nachrichten anzuschauen.

 

Auch für den Usbeken Djamolin war der Wohnheimsalltag oft genug kein Zuckerschlecken. An sich verstand er sich mit den Arabern ganz gut, Rachid war zum Beispiel ganz nett, auch Joseph und Medi, aber Karim machte immer Witze über die Usbeken und die Norallianz, wenn im Fernsehen Bilder von Afghanistan gezeigt wurden. Die anderen lachten dann immer mit und meinten, die Taliban seien eben stärker als die Nordallianz, wie überhaupt Usbeken Schwächlinge seien. Das stimmte natürlich nicht, aber er war nun mal in der Unterzahl. Was sollte er da machen? Das ging nun schon seit zwei Semestern so. Darum freute er sich auch insgeheim, als die Amerikaner Afghanistan bombardierten, das geschah ihnen recht. Nach aussen hin verhielt hin zeigte er das aber nicht, schliesslich wollte er es sich nicht vorschnell mit ihnen verderben. Sie waren gegen die Amerikaner, denen sie die Attentate in New York und Washington gönnten. Gut, er war auch immer gegen Amerika gewesen, die für das Elend vieler Moslems verantwortlich waren, aber die Taliban in Afghanistan waren keine guten Moslems. Rachid, Joseph und Karim hatten das immer nicht einsehen wollen.

 

Und es gab ja auch gute Amerikaner, wie John zum Beispiel, der in der dritten Etage wohnte. Der war auch seit einem Jahr hier. Bisher hatte er nie was dazu gesagt, dass Sarah herablassend behandelt wurde und auch, dass Karim und seine Freunde über Djamolin ablästerten, hatte er geflissentlich übersehen, ja gelegentlich sogar mitgelästert. Aber Johns Fass lief über, als Karim auch Tracy, eine amerikanische Austauschstudentin, und Aurelie aus der Küche verbannen wollte und obendrein noch frauenfeindliche Witze machten. Da hat er sich kurz mit seinen Kumpels Michael und Richard aus GB sowie Pierre und Yann aus Frankreich beraten. Die haben ihm dann gleich zugestimmt, dass man was dagegen unternehmen müsse, zumal Pierre und Yann eh noch eine Rechnung mit den Arabern offen hatten, seitdem bei dem Fussballspiel Frankreich-Algerien algerische Fussballfans den Rasen gestürmt und für den Spielabbruch gesorgt hatten. 

 

Er hat Karim und dessen Freunden dann ein Ultimatum gestellt, sie sollen sich innerhalb von zwei Tagen bei den Mädchen entschuldigen. Als sie das nicht gemacht haben, ist er mit Michael und Richard zu ihnen gegangen und hat sie vermöbelt, er konnte nämlich Kampfsport. Pierre und Yann haben ihm den Rücken freigehalten. Er hat den Arabern auch beschieden, sie sollen sich nicht mehr über Djamolin lustig machen, sonst bekommen sie es nochmal mit ihm zu tun. Rachid, Joseph und Medi haben daraufhin beteuert, von Karim nur angestiftet zu sein, worauf Djamolin ihnen zugesichtert hat, sollten sie sich von Karim lossagen, würde er ihnen verzeihen und sie dürften wieder seine Freunde sein. Auf dieses Angebot sind sie dann auch eingestiegen. Djamolin durfte jetzt auch immer die Fernbedienung reservieren. Dieses Ereignis fiel zeitlich zufällig mit der Einnahme Kabuls durch die Nordallianz zusammen.

 

Für Sarah waren die neuen Hierarchien auf jeden Fall ein Gewinn, zwar durfte sie nicht die ganz Popstars-Sendung schauen, Djamolin stellte aber immerhin vor dem Wetter auf den von ihr gewünschten Sender um, so dass sie immerhin noch den Abspann mitbekam. Die Küche durfte sie nun auch benutzen, wann sie wollte. Noch mehr freuen tat sie der Umstand, dass sie nicht selber kochen musste, sondern von Florian und Stephan, den beiden Deutschen, sogar zum Essen eingeladen wurde. «Tu est très maigre. Tu as besoin de quelque chose très consistante.» hatten sie ihr gesagt und ihr eine happige Portion Wiener mit Pommes und Spiegelei zubereitet. «C'est allemand. Tu vas l'aimer!» Ja, Florian und Stephan hatten noch mal Glück gehabt. An der Frage, ob sie sich in den Konflikt einschalten und für Sarah, Tracy und Aurelie Partei ergreifen sollten, wäre fast ihre Freundschaft zerbrochen. Tatenlos zusehen wäre nicht gut gewesen, und sich auf die Seite der Mädchen zu schlagen, hätten ihnen böse Zungen bestimmt als Ausländerfeindlichkeit ausgelegt. Zum Glück war John mit Karim und seinen Freunden dann alleine fertig geworden und ihre Beteiligung beschränkte sich auf humanitäre Akte.