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Winterdienst

Jedes Mal wenn es schneit, muss ich an meinen einstigen Studentenjob beim Winterdienst denken. Seitdem weiß ich auch, dass es immer nachts anfängt zu schneien, denn es war stets nach Mitternacht, wenn mich der Anruf meines Chefs aus dem Tiefschlaf riss.
"Herr Kampa, es schneit!"
"Nein, es schneit nicht."
"Doch Herr Kampa, es schneit."
"Ich bin nicht Herr Kampa."
"Doch, Sie sind Herr Kampa."
"Nein, bin ich nicht."
"Sind Sie doch."

 

Eine halbe Stunde später fuhr ich mit meinen Schneefahrzeug durch Neukölln. Vorne hatte es eine große Bürste, mit der man den Gehweg freibürsten konnte. Auf der Ladefläche lag der Streusand, der automatisch abgelassen wurde, wenn man vorne bürstete. Einmal war ich so müde, dass ich beim Bürsten Schlängellinien fuhr. Das widersprach jeder Vorschrift und konnte meine Entlassung zur Folge haben. Und tatsächlich rief mich am nächsten Tag mein Chef an.
"Herr Kampa, es hat Beschwerden gegeben. Ein Kunde hat angerufen, dass sie einen Gehweg in Schlängellinien gefegt hätten."
"'Tschuldigung, Chef! Soll nicht wieder vorkommen."
"Doch Herr Kampa. Soll vorkommen. Der Nachbar will das jetzt auch haben. Ab sofort fegen Sie die ganze Braunschweiger in Schlängellinien, oder Sie sind entlassen!"
"Alles klar, Chef. Ich komme."
"Wieso wollen Sie kommen, Herr Kampa? Es schneit doch gar nicht."
"Was? Es schneit nicht? Und warum rufen Sie dann nachts um drei bei mir an?"
"Reine Gewohnheit, Herr Kampa."

 

Nach dem nächsten Schneefall hatte die ganze Braunschweiger Straße einen geschlängelten Fußweg. Das sprach sich in Neukölln herum, und als es wieder schneite, waren auch Sonnenallee und Karl-Marx-Straße geschlängelt. Nun gab es plötzlich Sonderwünsche. Ein kleiner Junge hatte sich zu Weihnachten Adidas-Streifen im Schnee gewünscht. Gegen einen Aufpreis erfüllte ich den Wunsch. Ein anderer Junge wollte das Nikesymbol. Das war schon komplizierter, aber auch diesem Anliegen konnte ich schließlich mit einigem Geschick nachkommen. Als aber eine türkische Familie einen Halbmond verlangte, musste ich passen. Das gab Ärger. Beim nächsten Schneefall lauerten sie mir auf.
"Ey, bist Du Nazi, oder was?"
"Nein. Wieso denn?"
"Warum machst du keinen Halbmond? Hast du was gegen Türken?"
"Nein. Aber wie soll ich denn einen Halbmond bürsten? Das ist doch viel zu kompliziert."
"Aber in Marzahn hast du Hakenkreuze gemacht."
"Hab ich nicht."
"Mehmet sagt, in Marzahn sind Hakenkreuze."
"Keine Ahnung, ich fege nicht in Marzahn."

 

Da die Türken nicht locker ließen, fegte ich ihnen schließlich einen Halbmond in den Schnee. Danach kündigte ich bei der Firma. Mein Nachfolger setzte meine Schlängeltechnik fort und entpuppte sich als wahrer Meister. Er schrieb sogar, wenn es verlangt wurde, ganze Firmennamen in den Schnee. In diesem Winter war es unmöglich, in Neukölln geradeaus zu gehen. Es dauerte Stunden, um zum Beispiel am Drehbänke- und Schleifmaschinenverleih Schustermann & Söhne vorbeizukommen. Wer sich aber vor Dürüm Döner aus Versehen in den Ü-Punkten verfing, musste bis zur Schneeschmelze warten, um seinen  Nachhauseweg fortsetzen zu können. Selbst im Frühjahr, als der Schnee schon längst geschmolzen war, gingen die Neuköllner aus Gewohnheit die unsichtbaren Muster entlang, die dort zuvor im Schnee gewesen waren.

 

Obwohl schon Jahre vergangen sind, seitdem ich beim Winterdienst war, kann man auch heute noch, wenn man nachts durch Neukölln geht, Menschen sehen, die in den alten Schlängellinien die Straße entlang gehen. Und das alles nur, weil ich einmal zu müde war, als es nachts zu schneien begann.